Band 25 

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Landgangsfieber und grobe See

Band  25 in der Buchreihe "Zeitzeugen des Alltags"

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Band 25 in der gelben Buchreihe „Zeitzeugen des Alltags“

Landgangsfieber und grobe See

Mario Covi

erzählt im Band 24 aus seiner Seefahrtzeit und setzt seine Berichte und Reflexionen in diesem Band fort.  Covi befuhr von 1962 bis 1990 als Schiffsfunker in der weltweiten Tramp- und Linienfahrt die Ozeane.  Er schreibt über ein Leben zwischen Abenteuer und Beruf, über Traumtrips und Rattendampfer.  Und er bedauert in etwas aufmüpfiger Art, dass der Seemannsberuf  an Reiz verloren hat – die Sehnsucht nach der Ferne aber geblieben ist.  Deshalb diese Erinnerungen an exotische Gestade, an die Zeiten, als es hinaus ging auf See, mit einem zusammen-gewürfelten Haufen ziemlich zügelloser Kerle, die sich zu einer gut funktionierenden Gemeinschaft zusammenraufen mussten.  Er berichtet von wilder Lebenslust, aber auch vom Niedergang der deutschen Handelsflotte als frühem Opfer der Globalisierung.  

Band 25 in der gelben Buchreihe „Zeitzeugen des Alltags“


 Jürgen Ruszkowski, Nagelshof 25, D-22559 Hamburg

Tel.: 040-18090948  - Fax: 040-18090954

vergriffen  - kein Neudruck mehr

nur noch als ebook bei neobooks

  Band 24

Ein Seemannsschicksal:

Der maritime Liedermacher 

Mario Covi: -1-

Traumtripps und Rattendampfer

Ein Schiffsfunker erzählt

über das Leben auf See und im Hafen


- nur noch als ebook bei neobooks und vielen großen Händlern und als kindle-e-book bei amazon neu in 3 Teilen direkt vom Autor Mario Covi eingestellt

 


Leseprobe:

59. Zwischen Kilimanjaro und Formosabay

Es war der 26. September 1966, an dem wir Tanga Richtung Bremerhaven verließen. Unser Schlepper, die ‚ROTESAND‘, tuckerte aus der betörenden Duftwolke, die von der Insel Pemba herüberwehte. Es hieß, dass dieses Eiland dreiviertel des Weltbedarfs an Gewürznelken deckte.

Drei Tage später, wir schipperten bereits an der somalischen Küste entlang, zirpte es aus meinen Kopfhörern: „...Zurück nach Mombasa zwecks Assistenz und Verschleppung zweier Hubinseln, eines Schwimmkrans und zweier Leichter nach Formosabay...“

Formosa... Formosabay... „Das wird ein ganz schön weiter Schlepptörn!“ polterten die Nautiker und wühlten in Seekarten und Handbüchern. Es dauerte ein Weilchen, bis wir die geographische Quizfrage gelöst hatten und vom fernen Ostasien (Formosa/Taiwan) und Argentinien (noch ein Formosa) zur nahen Ungamabay (auch Formosabay) gefunden hatten. Aha! Die Formosabucht also, die sich halbwegs zwischen Malindi und der Insel Lamu an der Küste Kenias befindet.

Da war er nun, der Zauber, der uns doch länger in ostafrikanischen Gewässern halten sollte! Von Ende September bis Anfang Dezember 1966 verbrachten wir dann eine unvergleichliche Zeit – sozusagen zwischen Kilimanjaro und Formosabay.  Es war ein Traumjob, den man uns aufgetragen hatte.  Ein italienisch-amerikanisches Gemeinschaftsprojekt sah im kommenden Frühjahr den Abschuss einer vierstufigen Rakete vor, die einen Satelliten zum Zwecke von Gravitationsmessungen 250 km weit in den Weltraum tragen sollte. Wir waren dazu ausersehen, die Plattform mit Rakete, wissenschaftlicher Ausrüstung und Wohngelegenheit für neunzig Mann in der Formosabucht in Position zu bringen.

Allerdings vergingen erst einmal fünf Wochen, bevor wir zu unserem ersten Auftrag in die 80 Meilen nördlich von Mombasa gelegene Ungamabay aufbrachen.  Fünf Wochen, die ausreichten, mir die Stadt Mombasa sowie das wilde weite Hinterland Kenias ans erlebnishungrige Herz wachsen zu lassen!

Spontan hatte ich mich mit einem etwas abgetakelt wirkenden ehemaligen Großwildjäger angefreundet, nennen wir ihn Alex, der sich mit gelegentlichen Jagd- und Fotosafaris über Wasser hielt. Er war der alternde Spross schottischer Früheinwanderer, der nie Europas Enge kennen gelernt hatte, sozusagen der Inbegriff eines weißen Afrikaners. Und wenn ich abgetakelt sage, so will ich zum Ausdruck bringen, dass Alex außerhalb seiner geliebten Wildnis immer auf das falsche Pferd gesetzt hatte. In Liebe zu einer Farbigen entbrannt, mit der er sieben bildhübsche Kinder hatte, war er während der britischen Kolonialherrschaft zum Outcast geworden, weil er die rassistischen Regeln der Gesellschaft missachtet hatte. Ein Ausgestoßener, der sich indes als Buschläufer, Elefantenjäger und Kämpfer gegen die Mau-Mau-Aufständischen bestens hatte verwenden lassen. Politisch instinktlos optierte er nach der Unabhängigkeit – ‚Uhuru‘, die Freiheit, war damals noch keine drei Jahre alt – prompt für das verhasste Empire. Nun war zwar die Rassenschranke gefallen, und er durfte mit seiner nichtweißen Frau die vormals ‚For-Whites-Only‘- Hotelterrassen betreten, doch Alex selbst war zum Nicht-Kenianer, zum ungeliebten britischen Staatsbürger geworden. Es war abzusehen, dass er im Laufe der Afrikanisierung sein Arbeits- und Existenzrecht verlieren würde, dass man ihm Kenia, seine wirkliche Heimat, ein zweites Mal verweigern könnte...

Diesem tragischen Typen verdanke ich eine hautnahe Einführung in die ostafrikanische Wildnis. Zunächst waren wir mit fünf Mann von Bord auf eine mehrtägige Fotosafari gegangen, hatten einen ersten Blick auf den Kilimanjaro geworfen und einen überwältigenden Eindruck von Ostafrikas Tierwelt mitgenommen. 1966 war Kenia gerade dabei, den Wechsel von der Feudal-Safari à la Hemingway zur Fotosafari für jedermann zu verwirklichen.  Nationalparks und Wildschutzgebiete bestanden zum Teil noch aus wegelosem Buschland: pure Urwüchsigkeit voller Überraschungen – auch böser!

Später gingen nur noch der Dritte Steuermann und ich mit Alex und seiner Frau auf Safari.  Und zwar auf die primitivste – und billigste – Art und Weise, indem wir des Nachts unser Deckenlager unter den Sternen aufschlugen.  Unvergesslich sind mir diese Nächte im Flackerlicht eines prasselnden Lagerfeuers.  Allerdings würde ich es heute nicht mehr so unbesonnen wagen, zwischen hysterisch heulenden Hyänen, deren Augen im Feuerschein aufleuchteten, und bedenklich nahe vorüberziehenden Elefanten die Decke über die Ohren zu ziehen, blindlings der fatalistischen und etwas unorganisierten Buschläufererfahrung unseres Safariführers vertrauend.  Aber so rundheraus und direkt hatten wir uns das ‚Große Abenteuer Afrika‘ erträumt, und wir schlürften diese Tage und Nächte gierig in uns hinein, genossen das trunken machende Aufspüren von Großwild, wie Büffel, Nashörner und Elefanten, oder putziger Dik-Dik-Antilopen.  Wir ließen uns die Droge Afrika willfährig unter die fiebernde Haut jagen!

Alex, der eher wortkarge knochendürre Kenia-Schotte, erzählte, als wir in einer berüchtigten Löwengegend biwakieren wollten, folgende Story:

Mit einem amerikanischen Seemann als Kunden war er auf Jagdsafari gegangen, und sie hatten zwei erlegte Impalas in den Eingang des großen Safarizeltes gehängt.  Das Zelt war so geräumig, dass ein Pritschenwagen darin stehen konnte, auf dem Alex und seine Frau schliefen.  Unter dem Truck nächtigten die afrikanischen Jagdhelfer.  Der Safarigast hatte auf einem Feldbett neben dem Wagen das bequemste Lager bezogen.  Die Nacht war bedeckt und stockdunkel, kaum ein Lufthauch ging, obwohl das Zelt weit geöffnet war.  Und dann, irgendwann in der Nacht, kamen die Löwen...

Im Zelteingang machten sie sich fauchend, knurrend, Fleischfetzen reißend und Knochen knackend über die Antilopen her.  Keiner hatte eine Taschenlampe in Reichweite, so dass der nächtliche Spuk zum Horrortrip wurde, zum qualvollen Rätseln: Wie viele Raubkatzen grunzen und schmatzen da eigentlich?  Was wird passieren, wenn die beiden Impalas nicht ausreichen, den Hunger der Biester zu stillen?

Der Yankee-Sailor lag gewissermaßen neben dem hungrigen Löwenrudel.  In Panik ergriff er sein Gewehr.  Einer der schwarzen Spurenleser unter dem Truck, dessen superscharfe Augen erkannten, worauf der Mann in seiner Todesangst visierte, flüsterte erschreckt: „Der ‚Mzungu‘ schießt gleich auf die Benzinfässer!“

Alex rief den Safarigast zur Räson, beruhigte ihn, dabei selbst an seinen guten Worten zweifelnd.  Der Seemann war letztlich nur noch ein Häuflein zitternden Elends.  Er konnte seinen von Todesahnungen geschüttelten Körper nicht mehr unter Kontrolle halten – und defäkierte.  Im Klartext: Er machte sich mit unkontrollierbarem Gefurze die Hose voll, und der beizende Raubtiergeruch mischte sich mit dem peinlichen Gestank des tausend Tode sterbenden Amerikaners, den die Löwen am Ende doch verschmähten – und die gastliche Stätte im Morgengrauen verließen…

Zweimal gingen wir Grünhörner mit Alex auf Jagd, pirschten obendrein hinter Kudus her, ohne zu ahnen, dass das Stellen des Großen wie des Kleinen Kudus zu den schwierigsten Safarizielen zählt.  Natürlich kamen wir nicht zum Schuss und ballerten schließlich ein paar Perlhühner vom Abendhimmel, um etwas in der Lagerfeuerpfanne zu haben.  Doch der lange Marsch durch die Dornbuschsavanne, die unerbittliche Sonne und die immer schwerer werdende Knarre im Nacken waren uns Neulingen schweißtreibende Erregung genug.  Es mutete uns wie Zauberei an, mit welch intuitivem Spürsinn der alte afrikanische ‚Tracker‘ die Fährte der Kudus verfolgte.  Gewiss, sehr nahe dran waren wir schon am Wild.  Aber Kudus, diese grau-blauen und leicht gestreiften Antilopen mit dem prachtvollen Korkenziehergehörn, stehen im Jägerlatein Afrikas nicht umsonst hoch im Kurs als kaum aufzuspürende, scheue, rätselhafte, ja geisterhafte Wesen.

Als ich Jahre später mit meiner Frau auf monatelanger Kamerapirsch unter anderem dem Kudu vom nördlichen Kenia bis ins südliche Tansania – am Großen Ruaha-Fluß – nachstellte, musste ich endgültig begreifen, dass man einen Kudu immer erst dann sieht, wenn man sprichwörtlich vor ihm steht.  Genau dann aber entschwindet dieses perfekt getarnte und starr verharrende Licht-und-Schatten-Wesen mit einem eleganten Sprung, mit einer verächtlich wirkenden leichten Seitwärtsbewegung im Flirren des Dornbusches.  Ein Schemen, riesig wie ein Hirsch, kraftvoll wie ein Pferd, und doch elfengleich flüchtig.  Ein glanzäugiger Buschzauber, ein Heimlichtuer, den verwirrten Jäger dem Safarisuff in die Arme treibend, der Kudu, korkenzieherhornbewehrter Meister listenreicher Tarnung!

Zurück zur Küste, wo die ‚ROTESAND‘ nach wie vor friedlich im Kilindini-Hafen von Mombasa ankerte.  Allmählich wurde es Zeit, etwas fürs Geld zu tun, und so brackerten wir zunächst mit zwei Bojen in die Formosabay.  Daraufhin eilten wir nach Mombasa zurück und nahmen die langgestreckte Hubinsel ‚SAN MARCO‘ auf den Haken, der späteren Raketenabschussrampe.  Hierauf war uns wieder eine einwöchige Atempause vergönnt, die wir weidlich dazu nutzten, dem liederlichen Nachtleben der Hafenstadt auf die Spur zu kommen.  Lieblingstreffpunkte waren ‚The Alps‘, das spätere ‚Sunshine‘ (weiß der Henker wie die Pinte im heutigen Touristen-Mombasa heißt), und der ‚Florida-Nightclub‘, wo ich überall mal eine musikalische Einlage bringen durfte.  Das steigerte sich zu einer Art Ritual, wenn ich von unseren Jungs und ihren Mädchen angefeuert wurde, den damals sehr populären Song ‚Malaika‘ zum Besten zu geben.  Malaika wurde unser ostafrikanisches Erkennungslied!  Ja, ja, wir vom deutschen Schlepper, der da im Port dümpelte, waren mittlerweile stadt- und kneipenbekannt.

Aber dann rief uns wieder die Formosabucht. Der Dampfkran ‚KIFARU‘ – auf Kisuaheli ‚das Nashorn‘ – wurde gebraucht.  Dann der wertvolle Raketenmotor.  Dann wiederum war es nur Wasser oder Gasöl, mit dem wir die SAN MARCO zu versorgen hatten.  Das Gerüst für eine Radarstation wurde in der seichten Bucht errichtet, und schließlich gesellte sich die Plattform ‚SANTA RITA‘ hinzu, von der aus der Raketenstart – der typische Countdown – durchgeführt und beobachtet werden sollte.  Wir tauten Leichter voller Kabelrollen heran, Material für die elektronischen Nabelschnüre zwischen den computerbepackten künstlichen Inseln.  Die Wissenschaftler und Weltraumspezialisten konnten also kommen!  Wir durften noch ein bisschen Proviant besorgen, ein wenig kiebitzen und Ungewöhnliches bestaunen.  Aber dann brauchte man uns endgültig nicht mehr. Unser Job war getan.

Am Morgen des 6. Dezember 1966 tuckerten wir hinaus auf den Indischen Ozean, wo der Nordost-Monsun alle sehnsuchtsvollen Gedanken an die Abenteuer der letzten Monate, an manch leidenschaftliches Geplänkel mit den dunkelhäutigen Liebchen, an die ungeahnte Großartigkeit der afrikanischen Wildnis aus uns herauszuprügeln versuchte...

Und der See gelang es meistens, uns für begangene oder versäumte Sünden tüchtig büßen zu lassen.  Mein Gott, was war ich manchmal seekrank!  Allerdings habe ich auf diesen Nuss-Schalen abgehärtete Fischdampfermatrosen kotzen sehen.  Einer der Maschinisten war drei Monate seekrank und konnte nur mit Pudding aufrecht gehalten werden.  Er gab nicht auf, nahm dreißig Pfund ab – und überwand letztendlich das vermaledeite Leiden.  Bei einem Ersten Steuermann indes half nur noch das Anlaufen eines rettenden Nothafens!

60. Im Meer der Sandsch

In Mombasa war es, genauer im ‚Nelson‘, einer der Seemannskneipen an der unteren Kilindini-Road, wo ich mit einem Tresennachbarn ins Gespräch kam.  Er erzählte, dass er auf einem Kahn zwischen der Küste Kenias und diversen Inseln im Indischen Ozean hin und her fahre.  Das hörte sich verdammt gut an, vor allem damals, 1966, als ich während meines langen Schlepperaufenthalts in Ostafrika so langsam süchtig wurde nach der verwegenen Aura dieser Region!  Und als Seemann war man immer heiß auf Tipps über Fahrtgebiete, Reedereien und Schiffe, die einem zusagten...

Mit meinem Macker, dem Dritten Offizier, besuchte ich den Seemann auf seinem Schiff im alten Hafen Mombasas, wo es bei English Point Zement lud.  Wir klönten, zechten Whisky, stürzten ab und übernachteten auf dem gastlichen Dampfer.  Und wir schauten uns Filme an - Super-8 hatte gerade seinen Siegeszug begonnen -, Filme, die den Zement-Zossen in Mauritius zeigten, wo Heerscharen holder Hindumädchen in leuchtenden Saris schmetterlingsgleich von Bord schwebten.  Bestimmt mehr Mädchen als Männer an Bord waren!

Es wäre niederträchtig zu behaupten, solcherlei sündenbabylonische Lockungen hätten weiland mein whiskybetäubtes Hirn beeinflusst, mich um einen Funkerjob auf dem Inselfahrer zu bewerben.  Mein persönlicher Anteil an den sattsam erörterten Trieben sollte demnächst sowieso in legalisierte Bahnen gelenkt werden: Ich heiratete!  Und als weltenbummelnde Flitterwöchner strolchten mein Schatz und ich zunächst fast ein Jahr lang durch Nord- und Mittelamerika, bevor wir, gereifter und um einige Einblicke in die Probleme der Dritten Welt reicher, den ostafrikanischen Horizonten entgegenstrebten.

Von Anfang 1969 bis Mitte 1971 durfte ich dann mitmachen, von Mombasa aus Zement zu verteilen.  Wir bedienten hauptsächlich die Maskareneninseln, machten Abstecher auf die Seychellen und nach Madagaskar, wagten uns in den ‚hohen Norden‘ zu den Emiraten oder blieben gleich an der heißen Suaheliküste bis hinunter ins Grenzgebiet zwischen Tansania und Mosambik.  Als schließlich noch die Keniaflagge am Heck des Zementtankers gehisst wurde, war Mombasa sogar unser verbriefter Heimathafen, in den wir regelmäßig, meist alle zehn Tage, zurückkehrten.  Das war natürlich ein Idealzustand für jede Art von Zusammenleben mit einem Seefahrer, und für uns Frischvermählte die ausschlaggebende Entscheidungshilfe, nach Kenia auszuwandern und in die von einer turbulenten Vergangenheit geprägten Inselstadt Mombasa überzusiedeln.

Unser ‚CEMENT-CARRIER‘ lag immer wie ein Missverständnis im alten Hafen vertäut, wo während des Nordost-Monsuns bis zu sechzig Dhauen aus Persien, Indien und den arabischen Staaten dümpelten.  Wir passten nicht so recht hinein in die fremdländische Szenerie, die sich ähnlich seit Jahrhunderten dem Betrachter dargeboten haben musste.  Denn schon früh hatten die Küstenvölker des Indischen Ozeans die Gesetzmäßigkeit der Monsunwinde erkannt.  Wie einst, segeln noch heute die Dhauen mit dem ‚Kaskasi‘ nach Mombasa, wo sogar chinesische Handelsdschunken geankert hatten, als Vasco da Gama auf dem Seeweg nach Indien – 1493 – in diese prachtvolle Hafenstadt eingelaufen war.

Es gibt Dhauen bis zu einer Größe von 300 Tonnen, und wir lernten im alten Hafen vielerlei Typen kennen.  Ihre nähere Bezeichnung – Boom, Kotia, Abubuz, Dhangi oder die kleine Lamu-Dhau – passen zum romantisch-rustikalen Erscheinungsbild der altertümlichen Nachen.

Mombasas Altstadt – Mvita -, zwischen Fort Jesus und der Nyali-Brücke, war so manchen neugierigen Bummel wert.  Der Duft von Gewürzen und Räucherstäbchen umwehte einen im engen Gassendurcheinander.  Es stank auch nach Deftigerem. Aber das, wie auch die fremdartigen Klänge aus den dickwandigen arabischen Häusern, passte absolut zum gewissen Extra der ehrwürdigen Küstenstadt, deren Geschichte sich bis zu den fabelumwobenen Reisen der Ägypter und Phönizier zurückverfolgen lassen soll...  Da schritten malerisch beturbante ‚Nahodas‘ – Dhaukapitäne – vom Hafen hoch; maronenbraune Söhne Sindbads in fadenscheinigen Piratenplünnen schleppten Frachtgut; Kaffee-Verkäufer klapperten mit Mokkaschälchen, um Kunden zu locken; Inderinnen in edlen Saris eilten in die Hindutempel; zerlumpte Afrikaner zerrten klobige Handkarren voller Obst Richtung Markt; ein Suaheli im nachthemdartigen ‚Kanzu‘ bot ‚Ndizi‘ – Trinkkokosnüsse – feil; Hausfrauen im schwarz glänzenden ‚Bui-Bui‘ feilschten um den Preis einiger Mangos; Kinder lärmten; irgendwoher wehte der verzaubernde Klang einer Sitar...

Gassen taten sich auf, wo Tischler, Schuster oder Silberschmiede mit mittelalterlichen Methoden ihrem Handwerk nachgingen oder Kostbarkeiten schufen.  Minarette über rostigem Wellblech; kunstvoll geschnitzte Türen, davor samtbraune Suahelikinder: Mischblut afrikanisch-asiatischer Kulturverschmelzung.  Morsches Gemäuer; das blendende Weiß eines Jain-Tempels; Fliegen; Dreck; Gestank; ein Hindu-Gotteshaus voll Gläubiger; Bettler, von Lepra zerfressen; das bunte Angebot afrikanischer Stoffe für ‚Khanga‘, ‚Kitenge‘ und ‚Kikoi‘, den landesüblichen Kleidungsstücken...

Von Mombasa aus strebte unser Schiff meist nach Südosten, wobei wir stets aufs Neue die bittere Erfahrung machen mussten, dass der Indische Ozean alles andere als ein tropisch-liebliches Säuselwind-Gewässer ist.  Tonnenschwere Brecher ergossen sich über unseren Pott, ließen den Schiffskörper sich schmerzvoll aufbäumen und minutenlang materialverschleißend schwingen und vibrieren.

Aber, das ‚Bahr-el-Zanj‘ – das Meer der Sandsch (Meer der Schwarzen) – tröstete uns mit seinen abenteuerlichen Gestaden, seinen Inseln und Eilanden.  Nach drei Tagen etwa passierten wir Kap d’Ambre, die Nordspitze Madagaskars.  Leider besuchten wir diese faszinierende Landmasse viel zu selten.  Doch wenn, dann waren lange Hafenzeiten der Ausgleich für den ansonsten oft hektischen Zementfahrerdienst.  Mir sind verschwiegene Pfahlbaudörfchen, märchenhafte Palmenstrände und eine vom Tourismus unberührte Bevölkerung in angenehmster Erinnerung.

Allerdings war da auch die eine oder andere heiße Nacht in wüsten Fremdenlegionärs-Kaschemmen.  Zu Salegy-Rhythmen tanzte man dort im Kreis, und die verwegenen Gesellen erzählten uns grausigen Söldnerirrwitz oder beschworen sentimentale Legionärsschicksale.  Da gab es die Indochina-Veteranen, die froh waren, alles heil überstanden zu haben.  Andere brüsteten sich mit ihrer Abgebrühtheit, gaben mit abgeschnittenen Feindesohren aus dem Algerienkrieg an oder beteuerten völlig verroht, dass ihr Kumpel „‘n Tabaksbeutel aus ‘m abgesäbelten Titt von ‘ner Araberin“ habe...

Unsere Crew schlug die drahtigen Kerle zwar im Fußball – dank unserer zähen kenianischen Seeleute -, doch als eines Nachts einer der Fremdenlegionäre seinen Kumpel mit dem Messer kurz und bündig abstach, wussten wir, dass man den Typen besser keine Widerrede gab.  Die Kneipe war nach dem Kameradenmord drei Tage geschlossen.  Der Messerheld bekam zwei Wochen Bau.  Uns war dieser Ehrenkodex schwer verständlich...

Zwei Tage hinter Madagaskar tauchte vor uns ein Schatten auf: La Réunion, französisches Übersee-Departement, und mit 2.512 Quadratkilometern die größte der Maskareneninseln.  Sie ist ein kolossaler Basaltdom, der aus den Tiefen des Ozeans emportaucht und wuchtig die über der Insel schwebende Wolkenbank durchstößt, um über dreitausend Meter in eisige Höhen emporzustreben.

Als mir rund zehn Jahre später mit den Eilanden des Meers der Sandsch ein unerwartetes Wiedersehen vergönnt war, stellte ich fest, dass sich La Réunion kaum gewandelt hatte.  Sicher, zehn Jahre hatten da und dort meist bauliche Veränderungen zugelassen.  Das zeigte sich am deutlichsten im vergrößerten Hafenbecken und dem riesigen, über 400 Meter hohen Antennenmast der Omega-Sendestation (Omega ist ein Funknavigationsverfahren, das extrem lange Funkwellen und deshalb ebenso lange Antennen benutzt).  Auch war die Augenweide, die uns am Korallensandstrand von St. Gilles durch sich oben ohne räkelnde Kreolinnen und Inselfranzösinnen gegönnt wurde, Ausdruck des Wandels.  Aber, St.Tropez blieb weiterhin zehntausend Kilometer entfernt, und die mondäne Affigkeit des ‚Dernier Cri‘ bekam hier allemal den Dämpfer des Provinziellen verpasst.  Der Flecken strömte noch immer das Fluidum einer weltabgeschiedenen, von der Tropenhitze des südlichen Wendekreises zur gemächlicheren Gangart verurteilten und etwas muffigen Idylle aus.  Doch was sich uns als schäbiger Charme vergangener Kolonialzeit darbot, war dereinst mit harter Feudalherrenhand aus Heerscharen madagassischer Sklaven herausgeprügelt und von raffgieriger Korsarenpranke zusammengefleddert worden.

Bereits in alten arabischen Seekarten als ‚Dina Margabin‘ verzeichnet, nennt unsere Geschichtsschreibung die Portugiesen – 1507 – als Entdecker von ‚Santa Appolinia‘.  Die endgültigen Herren blieben allerdings die Franzosen, die, wie andernorts andere Kolonialmächte, aus einer einst menschenleeren Vulkaninsel alles andere als ein Paradies zu schaffen wussten.  Intrigen, Revolte, Anarchie und Unersättlichkeit ließen La Réunion zum Tummelplatz von Abenteurern und Piraten werden.  Auf dem langen Seeweg zu den Pfründen des Orients bot sich die Insel als Grog- und Hurenhaus des Indischen Ozeans feil.

Für uns Zementfahrer war der sündige Reiz der ganz anders gearteten Nachbarinsel Mauritius weitaus attraktiver.  Allerdings, auch La Réunion war nicht ohne!  Und mancher Seemann fand hier seine ‚Freundin auf Zeit‘, wie meine Frau die Hafenliebchen so nett bezeichnete.

Da fällt mir eine tragische Episode ein.  Einmal starb eines dieser Mädchen an Bord.  Ein sechzehnjähriges Ding, das dem Chief in sockenstopfender Fürsorglichkeit und stiller Anschmiegsamkeit zugetan war.  Die beiden wirkten immer wie ein glückliches ‚Ehepaar auf Zeit‘, um Hildruns Terminologie auszubauen.  Die junge Frau war auf die Toilette gegangen, fiel um – und war tot.  Freundinnen, die mit auf dem Schiff waren, erzählten, sie habe eine von einer Quacksalberin erworbene Medizin genommen, um abzutreiben.  Natürlich mühten sich die Männer um das Mädchen.  Der Zweite versuchte durch stundenlange Herzmassage und mit künstlicher Beatmung dem kaum begonnenen Leben wieder auf die Sprünge zu helfen.  Doch die Kleine war unwiderruflich dahingegangen.

Anderntags endlich erschien ein Arzt, der sich die Tote aus abfälliger Distanz anschaute und murmelte: „Ja, ja, ‚der‘ ist tot, ‚den‘ könnt ihr mitnehmen...“ – Dabei lag die Kreolin mit durchaus als weiblich zu erkennendem, kaum bedecktem Oberkörper da, so, wie man sie nach versagender Erster Hilfe auf dem Bett zurückgelassen hatte.  Auch scherte sich keine Polizei und keine Behörde um den rätselhaften Tod des Hafenmädchens.  Es hätte ja auch ein Mord sein können!  Und als hinterher die benachrichtigten Eltern, verhärmte arme Leutchen aus den Bergen, an die Küste kamen, galt ihre erste Frage den Schuhen ihres toten Kindes...

Selbstredend schaffte es der böswillige Klatsch in der Flotte, die Episode dergestalt zu verdrehen, dass man bald nur noch hechelnd die geschmacklose Version zu hören bekam, die behauptete, „dass da so ‘n superscharfer Chief ‘ne Alte an Bord totgevögelt hat.“

Eine Tour in die Mondlandschaft des zeitweise aktiven Vulkans Piton de la Fournaise ließ uns etwas von der Urgewalt dieser trotzigen Basaltbastion mitten im Weltmeer ahnen.  Die Liegezeit in Port des Galets reichte leider nie für eine beschaulichere Wanderung in die Höhen.  Doch am ersten Sonntag des September 1970 fuhr ich einfach mal per Anhalter nach Dos d’Ane und wanderte zum Cap Noire.  Zufälligerweise – an derlei Belanglosigkeiten können sich nur närrische Tagebuchkritzler hochziehen – war es wieder der erste Sonntag im September, nur zehn Jahre später, als ich eine längere Hafenliegezeit dazu nutzte, mit dem Ersten Offizier in die Berge zu wandern.  Abermals stand ich am Cap Noire, wo sich uns auf anderthalbtausend Metern Höhe ein großartiger Ausblick auf eine unzugängliche Gebirgswelt öffnete.  Wir schauten in tiefe, schwindelerregende Schluchten, die Cañons glichen.  Wir bestaunten die bewaldeten Steilhänge, die Schroffen und Klippen, die fernen Massive der mächtigen Zwei-bis-Dreitausender im Inselinneren.  Wir sahen kleine Weiler, elende Einödhöfe, die verloren und gottverlassen an den Berghängen klebten.  Uns erschienen jetzt die Geschichten glaubwürdig, die von Hinterwäldlern berichteten, die noch nie aus ihrer unnahbaren Welt der Klüfte und Bergdschungel gekommen seien, um das nahe Meer zu sehen.

Über schmale Grate, an Abgründen entlang, auf Leitern, die in die Felsen eingelassen waren, stiegen und kletterten wir höher.  Bis zum ‚Flaschenfelsen‘ war ich einst mehrmals gekommen.  Einmal mit meiner Frau und einem der illustren Frachter-Passagiere, die damals, fern von regenbogenblättrigen Biedermann-Gazetten und sensationsgeiler ‚Yellow Press‘ sozusagen inkognito Ferien machten.  Es waren dies die Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen und Franz Wilhelm von Preußen, erlauchtes Vettern-Duo, das zuvor in Ostafrika auf Safari gegangen war.  Ich glaube sie wussten zu schätzen, dass wir mit ihnen keinen großen Heckmeck machten.  So vermied ich weiland pedantisch, Prinz Friedrich allein oder gar mit Hildrun zu fotografieren, um später damit renommieren zu können, mit welch hochadliger Elite man da am Ende der Welt herumkraxelte und herzerfrischend un-höfisch gemeinsam aus einer mitgeführten Matrosentod-Buddel (einer Flasche zollfreien Weinbrands) nuckelte.  So eine Fotoserie aus dem Indischen Ozean hätte sich garantiert an die Boulevardpresse verscherbeln lassen, zumal wenig später ein bedauerlicher Eklat, im Zusammenhang mit der Promotion des Prinzen, den Blätterwald rauschen ließ.  Damals jedoch zogen wir vergnügt, und von Sensationslust unbehelligt, durch das wilde Bergland.

Und seit damals lockte mich ein Trampelpfad, der sich, einem Grat folgend, weiter ins Innere verlor.  Anhand einer guten Karte hatte ich mir ausgerechnet, dass wir in wenigen Stunden den Nordostteil des Massivs überwinden könnten, um dann entweder per Anhalter oder mit dem Bus aus den Bergen zur Hauptstadt St. Denis zu stoßen.  Die gerade Weglinie der Karte erwies sich aber als ein entsetzlich anstrengendes Auf und Ab längs eines Grates, der einer überdimensionalen Säge glich.  So erklomm man dauernd turmhohe Felszacken, um gleich wieder in farngestrüppwuchernde Senken zu ächzen.  Dadurch verdoppelte sich die Wegstrecke.  Immer höher und tiefer drangen wir in die Inselwildnis.  Hier also hatten sich seinerzeit die ‚Marrons‘, die entlaufenen Sklaven der Zuckerrohrpflanzer und Gutsherren verschanzt, hatten dem Inselinneren den Ruch schreckenerregender Uneinnehmbarkeit angehängt.  Rückblickend ist diese Epoche menschlicher Fragwürdigkeiten noch gar nicht so lange her: 1847 hatte man rund 61.000 Sklaven in die erzwungene Freiheit eines kaum besseren Elends entlassen, und noch 1815 hatten 16.500 Europäern 70.000 Sklaven zur Verfügung gestanden...

Mehr als zwei Kilometer pro Stunde schafften wir nicht auf dem schweißtreibenden Saumpfad.  Noch schien über uns die Tropensonne, an tiefen Abgründen war uns berauschender Weitblick gegönnt, dann wieder schluckte uns märchenhafter Wald oder ein Windbruch ließ uns die Wucht wütender Zyklone ahnen.  In Europa hätten wir längst die Baumgrenze überschritten gehabt, doch hier arbeiteten wir uns durch eine fremdartige Vegetation.  Wir spürten die Nähe einer Wetterscheide, denn jenseits des Bergkammes staute sich im Luv der Insel Wolkendampf.  Fetzen davon segelten über die zerzausten Wipfel der mächtigsten Bäume, den knorrigen Wächtern des unheimlichen, zackigen Drachenrückens, auf dem wir uns zu weit vorgewagt hatten und nun nur noch die Flucht nach vorn antreten konnten.  Hoch in den Bergen erreichten wir zwar eine Schutzhütte und einen verträumten Berghof, Kreuzungspunkt herrlicher Wanderwege, doch das Wetter ließ uns keine Ruhe.  Wir gelangten in den Luvbereich La Réunions, wo Regen und Erdrutsche zum Alltag gehörten.  Und der Wetterumschwung kam erbarmungslos!  Die tief eingefrästen Maultierpfade weichten zu Schlammgräben auf.  Wir stolperten, rutschten und schlitterten durch einen Regenwald aus grauer Vorzeit.  Mit dem Wetter hatte sich auch die Vegetation schlagartig geändert.  Dichter Rohrdschungel umschloss uns, aus nebeldurchwallten Schluchten ragten hohe Baumfarne.  Wie Drachenatem waberte und wogte die Feuchtigkeit in dieser Urwelt.  Hätten sich Saurier ihre langen Hälse nach uns verrenkt, wir hätten auch das hingenommen, so eigenartig erschien uns der unwirtliche, schlammig-schwammig-nasse Inseldschungel.

Für den 18 bis 20 Kilometer langen Abstecher ins Innere La Réunions waren doch acht Stunden nötig gewesen.  Wir säßen möglicherweise noch heute auf dem fernen Eiland, wenn wir nicht das große Glück gehabt hätten – verdreckt und fertig, wie wir waren – am Ende des Pfades auf eine französische Bergsteigerfamilie zu stoßen, die gerade Richtung St. Denis abfahren wollte.  Wir müssen so mitleiderregend ausgesehen haben, dass sie zusammenrückten und uns die lange Serpentinenstrecke bis zur Küste mitnahmen...

Während meiner Zementfahrerzeit durchs Meer der Sandsch begleitete mich meine Frau regelmäßig während der einen oder anderen Reise.  Einmal fuhren wir gemeinsam in den Süden Tansanias, nach Mtwara, einem verträumten kleinen Küstenort kurz vor der Grenze nach Mosambik, wo zu jener Zeit die Portugiesen um ihre Kolonialmacht fochten.

Als wir an die paradiesischen Korallenriffe zum palmenrauschenden Strand schlenderten, passierten wir unbedarft und unbehelligt ein Camp der ‚Frelimo‘, der Befreiungsfront Mosambiks.  Das Warnschild, das auf Kisuaheli jeglichem unerlaubten Betreten des Lagers mit knallharten und tödlichen Konsequenzen drohte, hing harmlos verbeult am anderen Ende des Guerilla-Biwaks.  Da waren wir halt bereits durch die ‚Todeszone‘ geschlendert, und in ostafrikanischer Liebenswürdigkeit schenkte man uns einfach keine Beachtung.

Dafür ballerten die Frelimokämpfer ein anderes Mal aufgeregt auf den Schlepper, der uns bei Sonnenuntergang aus der Bucht begleitet hatte und nun heimwärts strebte.  Die Portugiesen hatten nämlich den verhassten Nachbarn nördlich des Ruvuma-Flusses schon einmal im Dunkeln überfallen.  Folglich schien es ratsam, auf alles zu schießen, was den nächtlichen Horizont des Ozeans störte.  Der Schlepper war allerdings mit dem Schrecken und durchlöchertem Schornstein davongekommen.  Dass es jenseits des Ruvuma bitterböse und grausam zuging, bestätigte mir ein durch die politischen Wirren eingeschüchterter schweizer Pater der örtlichen Missionsstation.  Er sprach verzweifelt von entsetzlichen Verstümmelungen und Verletzungen, mit denen Afrikaner hilfesuchend in der Mission auftauchten...

Die Seychellen waren damals noch ein wirklicher Geheimtipp.  Es gab nämlich noch keinen Flughafen.  Doch die Zementfirma, für die wir den Baustoff verschifften, versorgte auch die Hauptinsel Mahé mit Portlandzement.  So war garantiert, dass durch den Bau eines jumbojetfähigen Airports endlich ein weiteres ‚Paradies‘ den Anschluss an den Massentourismus finden konnte!

Während eines Aufenthalts auf Mahé besorgte ich mir ein Exemplar der ‚Coco-de-Mer‘.  Sind die Hauptinseln der Seychellengruppe als Granit-Eilande bereits eine Besonderheit im Indischen Ozean, wo alle anderen Inselflecken entweder vulkanischen Ursprungs oder Korallenatolle sind, so ist die Seychellennuss ein botanisches Unikum.  Sie kommt nirgendwo sonst auf der Welt vor.  Und zwar findet man sie nur auf einer der über neunzig zum Archipel zählenden Inseln, die damals noch eine britische Kolonie waren: auf Praslin.  Dort reift sie in sieben Jahren auf einer hochgewachsenen weiblichen Palme heran.  Natürlich gibt es auch männliche Palmen, die neckischerweise prachtvoll lange, penisartige Befruchtungsorgane haben.  Der erotisierende Zauber dieser paradiesischen Palmenhaine beflügelte wohl die These, Praslin sei der einstige Garten Eden gewesen und die ‚Coco-de-Mer‘ die Frucht vom Baum der Erkenntnis.  Eva muss dann allerdings ein ganz schön strammes Urviech gewesen sein, erreichen die lockenden Früchte doch über dreißig Pfund Gewicht!  Dem weißen Gelee junger Seychellennüsse wird eine aphrodisische Wirkung angedichtet.  Die sexuell stimulierendste Wirkung geht jedoch aus der Form der Meereskokosnuss hervor, die man so bezeichnete, weil sie, als völlig unbekannte Frucht an ferne Ufer gespült, nur aus der rätselhaften Tiefe des Meeres stammen konnte.  Sie ähnelt nämlich bis aufs borstige Schamhaardreieck einem weiblichen Unterleib!  Solch ein delikates Ding also schleppte ich an Bord, wo mir grölend bestätigt wurde: „Mann, das sieht ja aus wie ´n amputierter schwarzer Weiberarsch!“

Als wir nach Mombasa heimkehrten, legte ich die Seychellennuss in meine Koje und drapierte das Bettzeug so geschickt, dass der Eindruck entstand, als schliefe eine schwarze Schöne in meinem Pfuhl, den knackig-nackigen Po keck in die Luft reckend. –

„Mir kam das gleich so komisch vor“, sagte meine Frau später.  „Alle drängelten sich so neugierig grinsend in der Nähe deiner Kammer herum...“

Zunächst war meinem Schatz aber doch die Luft weggeblieben, als da die vermeintliche schwarze Sünde aus den weißen Laken blinzelte...


61. Zyklone und Zuckerrohr                   

Auf etwa 20 Grad Süd und 57 Grad östlicher Länge ragt die Spitze eines uralten, aus tiefsten Tiefen emporgewuchteten Sockels aus dem Blau des südlichen Indischen Ozeans: Mauritius, ein zu den Maskarenen zählendes Eiland, dessen brodelnder Vulkankegel vor unendlich langer Zeit durch eine gigantische Explosion zerbarst.  Die Splitter dieser Explosion liegen heute als Satelliteninseln um die Hauptinsel verstreut.  Der zerfetzte Rest ist eine prachtvolle Gebirgskulisse, die, nähert man sich der Insel von See, den Betrachter mit ihrer unverwechselbaren Kontur begeistert.

Während meiner langen Fahrtzeit auf einem Zement-Tanker, mit dem wir von Mombasa aus die Inseln mit dem begehrten Baustoff versorgten, stand Mauritius immer wieder auf unserem Fahrplan.  Es waren wilde Hafenliegezeiten!  Auch meine Frau erinnert sich an die Mädchen, die das Schiff sofort nach Einlaufen stürmten und sie – als alte Bekannte – mit französischen Wangenküsschen begrüßten.  Geschickt hatte mein geliebter Schatz durch ihre regelmäßige Anwesenheit den Mädchen klargemacht, dass ich in festen Händen und für Hafenliebchen tabu war...  Dennoch verbrachten wir auf Mauritius ausgelassene Nächte.  Beispielsweise mit den Preußen-Prinzen im Seemanns-Etablissement ‚Golden Moon‘, von wo wir anschließend mit zehn Mann in einer der schrottreifen Insel-Taxen zurück an Bord fuhren.  Es ist mir heute noch ein Rätsel, wie wir das geschafft haben...

Mauritius ist allerdings mehr als ein zwielichtiges Seemannsparadies oder ein Zauberwort für Philatelisten.  Wie La Réunion war Mauritius den arabischen Seefahrern seit langem bekannt.  Dann stießen Portugiesen im Abstand mehrerer Jahre und unabhängig voneinander auf das unbewohnte Tropeneiland, gaben ihm die unterschiedlichsten Namen – und vergaßen es.  Noch heute ist man in diesem Fahrtgebiet ziemlich weit vom Schuss.  Kolumbus hatte mal eben vor zehn Jahren Amerika entdeckt, als die ersten Portugiesen in diesem entlegenen Winkel der Erde kreuzten und an ihren Inselentdeckungen ziemlich uninteressiert schienen.  Wenigstens ist vom dritten portugiesischen Entdecker, Pedro Mascarenhas, der Name für die Inselgruppe – die Maskarenen – hängen geblieben.  Trotzdem blieben die unberührten Gestade hinter dem Horizont eine vage Erinnerung, an die man keine großen Gedanken verschwendete.  Es gab kein Gold, noch nicht einmal Kannibalen, die man hätte bekehren können.

Rund neunzig Jahre später – 1598 – wurde der holländische Vizeadmiral Wybrand van Warwyk zum nächsten Wiederentdecker des Fleckens und verlieh im – zu Ehren des Prinzen von Oranien – den Namen Mauritius.  Mehr geschah nicht, denn es dauerte wieder zwei Jahre, bis eine holländische Flotte 1601 auf Mauritius landete.  Die holländischen Seeleute waren sehr erstaunt, auf dem bislang unbewohnten Eiland einem Robinson zu begegnen.  Mit dessen Schicksal – der französische Seemann hatte zwanzig Monate lang auf Mauritius überlebt – beginnt sozusagen die bewegte Geschichte dieser fernen Insel.

Die holländischen Siedler rodeten in ihrer Gier ganze Wälder von Ebenholz.  In kürzester Zeit gelang es ihnen, die edlen Bäume einfach auszurotten.  Ach ja, die taubenartigen, aber bis zu 45 Pfund schweren Dodos waren auch bald weg vom Fenster.  Die Nachwelt durfte sich mit einigen Knochen, einem Schnabel und drei Füßen – kärglichem Museumsmaterial - zufrieden geben.  Als die Wälder geschafft waren, pflanzten die Siedler von Batavia eingeführtes Zuckerrohr und holten sich Sklaven von Madagaskar.  Allerdings scheiterten diese ersten Besiedlungsversuche kläglich.

Mauritius war zum Schuttabladeplatz menschlichen Abfalls aus den anderen Kolonien geworden.  Streitigkeiten, Unordnung, Intrigen, durch Rattenplagen verursachte Hungersnöte sowie die unberechenbaren Wirbelstürme zwangen letzten Endes die holländische Ostindien-Kompanie zur Aufgabe der Inselkolonie.  1710 blieben nur noch Bluthunde zurück.  Diese sollten das Wild ausrotten.  Die Portugiesen hatten einst Schweine, Affen, Hirsche und anderes Viehzeug ausgesetzt, das sich stark vermehrt hatte.  Vor allem aber sollten die Kampfhunde den durchgebrannten Sklaven den Garaus machen, um Mauritius für jeden Besiedelungsversuch konkurrierender Nationen unattraktiv zu machen.  Glücklicherweise gingen die Bluthunde ein, denn als 1721 Piraten die Insel besuchten, führten dort noch einige Menschen ein kärgliches Leben...

Nach den Niederländern landeten die Franzosen an den entlegenen Ufern, die sie zur ‚Ile de France‘ und zum Stützpunkt der mächtigen französischen Ostindien-Kompanie machten.  Port Louis wurde zum Haupthafen auf dem Seeweg nach Indien ausgebaut und die Insel – die damals mal eben 800 Einwohner zählte - auf den Krieg mit den Engländern vorbereitet.

Wenn ich durch die 1.800 Quadratkilometer große Insel stromerte, wurde ich immer wieder an ihre wild bewegte Vergangenheit erinnert.  Da war zunächst Port Louis, Hafen und Hauptstadt des Insellandes, Schauplatz mancher Katastrophe und malerische Kulisse für viele dunkle Piratengeschäfte.  Einst waren während eines Zyklons im Jahre 1773 zweiunddreißig Schiffe im Hafen gestrandet.  Hier hatten Pocken-, Cholera- und Malariaepidemien von grauenhaften Ausmaßen getobt.  Im Dezember 1865 zum Beispiel waren allein in Port Louis weit über 18.000 Menschen – ein Drittel der Einwohner – an Malaria gestorben.

Seeräuber und Freibeuter hatten phantastische Schätze in diesen gutgeschützten Hafen geschleppt.  Bereits vor Ausbruch eines neuen Krieges gegen England im Jahre 1778 hatten draufgängerische Kaperkapitäne Prisen von zwei Millionen Francs zusammengeplündert.  Würde man diese Summen auf die heutige Kaufkraft umrechnen, käme man garantiert auf einen mehrfachen Milliardenwert!

Man nannte die Korsaren ‚die Aristokraten und Prinzen der Insel‘.  Sie fügten der britischen Schifffahrt unvorstellbare Verluste zu, als sie zum Beispiel allein zwischen 1793 und 1797 sage und schreibe 2.266 britische Kauffahrteischiffe kaperten!  Kein Wunder, dass die Briten alles daran setzten, den berüchtigten Freibeuterschlupfwinkel niederzubrennen.

Einer der kuriosesten Berge der Insel, eine 815 Meter hohe Felsnadel, auf deren Spitze ein riesiger Felsbrocken balanciert, trägt den Namen des holländischen Admirals Pieter Both, der in einem tropischen Wirbelsturm vor Mauritius Flotte und Leben verlor.  Der Seeräuberei und den Mauritiusorkanen haben heutige Schatzsucher die unzähligen prisenverdächtigen Wracks um Mauritius und andernorts im Meer der Sandsch zu verdanken.  Während der Saison dieser gefürchteten Zyklone, von Dezember bis April, mussten wir Zementfahrer zuweilen bis zu drei dieser Wirbelstürme im Auge behalten und ihre tückischen Kurse verfolgen.  Dann lagen wir hin und wieder in Lee der Maskareneninseln, um die irrsinnigen Roller abzureiten, die sich in gigantischen Brechern über die Molen der unpassierbar gewordenen Hafeneinfahrten ergossen.

Eines dieser quirligen Windweiber namens ‚Hermine‘ kam ungebeten zu meinem dreißigsten Geburtstag angefegt.  Wir waren vorsorglich am 23. Januar 1970 von La Réunion abgedampft, um nach Nordwesten auszuweichen.  ‚Hermine‘ änderte hinterlistig ebenfalls ihren Kurs, so dass wir dem Zyklon am folgenden Tag direkt in die Arme liefen.  Bei Orkangeheul, berstenden Kreuzseen und Regenkaskaden, die einem jegliche Sicht raubten, schlingerten und stampften wir zum Gotterbarmen.  Ein Mann wurde abgestellt, um mich in der Funkbude festzuhalten, damit ich die stündlichen Wettermeldungen über das orgiastische Treiben der Elemente einigermaßen verständlich hinausmorsen konnte.  In jenem entlegenen Fahrtgebiet saß ein Schiff höchst selten im Auge eines Zyklons, und folglich war man sehr an unseren Wetterbeobachtungen interessiert.  Bis zu vierzig Grad holte der Kahn über.  In sämtlichen Messen und Kajüten gab es erhebliche Schäden.  Wir steuerten schließlich nach Osten zurück, Richtung Mauritius, wo wir am 25. Januar 1970, vor Mahébourg treibend, den Beginn meines vierten Lebensjahrzehnts feierten - und unsere Wunden leckten.  Währenddessen zog es der Zyklon vor, einen abermaligen Haken zu schlagen und La Réunion heimzusuchen.  Die hohe See hielt uns dennoch bis zum 27. Januar im Windschatten von Mauritius fest, bis der Hafen von Port Louis wieder offiziell für den Schiffsverkehr geöffnet wurde...

Dank der häufigen Besuche unseres Schiffes auf Mauritius bot sich immer die Gelegenheit zu einem Ausflug.  So durchstromerte ich die Insel mit Kameraden, allein oder mit meiner Frau zwischen der Tamarin-Bucht und dem Miniaturmatterhorn Mount Rempart, vom Kap Brabant bis zum Cannonier Point.  Der größte Teil des Landes war mit wogenden, grünen Zuckerrohrfeldern bedeckt, aus denen hohe Pyramiden zusammengetragener Steine ragten.  Die Pflanzungen waren übersät mit diesem Geröll vulkanischen Ursprungs.  Ich beobachtete, wie ausgemergelte Landarbeiter mit schweren Vorschlaghämmern die findlingsgroßen Blöcke in handlichere Splitter zerschlugen.  Eine Knochenarbeit, die einst Sklaven verrichteten.  Von diesem armseligen Menschenvieh waren während der Zeit des Sklavenhandels 800.000 Stück auf die ‚Ile de France‘ verschleppt worden.

Auch nach 1810, als die Briten endlich die Insel eroberten und ihr den alten Namen ‚Mauritius‘ zurückgaben, scheiterte jeglicher Versuch, die Sklaverei abzuschaffen an der Ignoranz der Pflanzer und Menschenhändler.  Da verhängte man ein Embargo über Mauritius, denn die Zucker-Insel führte einen unfairen Wettbewerb gegen Westindien, wo das süße Rohr von bezahlten Arbeitern geerntet werden musste.  1825 wurde zwar das Ausfuhrverbot aufgehoben, doch der Sklavenschmuggel stieg mit der Wut der Pflanzer.  Es folgten schwere Kämpfe gegen die reaktionären Feudalherren, die schließlich im Jahre 1834 mit einem Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei und einer lukrativen Entschädigung – für die Pflanzer, versteht sich – beendet wurden.

Nach ihrer Befreiung verließen die Sklaven fluchtartig die Plantagen.  Um die gähnende Lücke zu schließen, wurde der menschliche Abschaum der indischen Slums als Arbeiter auf die Insel gelockt.  Für minimalsten Verdienst mussten sie Fünfjahreskontrakte unterzeichnen.  Aus der Sklaverei wurde niedrigste Leibeigenschaft!  Innerhalb von dreißig Jahren kamen 200.000 Inder auf das Eiland, Moslems und chinesische Händler siedelten sich an, und bald schien Mauritius vor Menschen überzuquellen.  Mittlerweile ist die Insel eines der am dichtesten besiedelten Agrargebiete der Welt.  Das heißt, damals, so um 1970 herum, waren es 460 Bewohner, die sich statistisch einen Quadratkilometer teilten.  Heute, nach der Jahrtausendwende, sind es bereits 570 Menschen.

Man nennt die Tropeninsel ‚das Land der Sternschnuppen und Regenbögen‘.  Ich habe sie in Erinnerung als ein ausgelaugtes Elendsviertel und ein exotisches Paradies zugleich, mit all den landesüblichen Ungereimtheiten.  Eine Wunderwelt aus dampfendem Regenwald bot sich mir beim Blick in die Schluchten des Black River.  Berauschend war die lodernde Blütenpracht der Flammenbäume, der Duft der Jacarandas.  Für Pflanzenfreunde war die Insel stets eine Fundgrube, denn schon früh waren wahre Schätze an botanischem Material aus aller Welt in den ‚Pamplemousses Garden‘ gebracht worden.  Auf diese Weise gelang es, das Gewürzmonopol der Niederländer auf den Molukken zu sprengen, und man erntete Muskatnüsse und Gewürznelken.  Dass Sansibar und Pemba fast ein weltweites Gewürznelkenmonopol haben, verdanken sie den ersten Bäumchen aus Mauritius.  Und an der Pracht der Parkanlagen von Schloss Schönbrunn ist die Insel mit der Lieferung von dreitausend verschiedenen Pflanzen beteiligt.

Zierliche Hindumädchen und unnahbar blickende chinesische Händler gehören ebenso zu meiner Erinnerungspalette an Mauritius, wie die drohende Überbevölkerung, die Arbeitslosigkeit, die verwilderten Bettler.  Da waren Kirchen, Tamil-Tempel, chinesische Pagoden, Moscheen, bunte und laute Märkte, Frauen, die in den Flüssen zwischen schwarzen Basaltblöcken Wäsche wuschen.  Da waren endlose Zuckerrohrfelder und die stete Bedrohung, dass ein Zyklon das Eiland unterm Kreuz des Südens zum Wrack zerschlagen könnte...

62. Inselabenteuer

Weltkarten zeigen nördlich von Madagaskar einige Flecken, die man für Fliegendreck halten könnte.  Sie sind auch nicht viel mehr als Krümel in der Weite des Indischen Ozeans.  Atolle, Klippen, Eilande, die einst zum ‚British Indian Ocean Territory‘ zählten oder bereits von den Seychellen verwaltet wurden.  Seit der Unabhängigkeit der Seychellen – 1976 – zählen die meisten endgültig zu diesem Inselstaat, sind aber mehr als tausend Kilometer von dessen Hauptstadt Victoria entfernt.

Da sind die Agalega-Inseln, die zu Mauritius zählen, aber ihrerseits auch weit über tausend Kilometer nördlich der Hauptinsel nur ein paar Quadratkilometer Staatsgebiet ausmachen.  Dann gibt es das Farquhar-Atoll, die Amiranten, die Cosmoledo-Inseln, die nichts weiter als Reste eines durch die Erosion ziemlich abgetragenen Ring-Atolls sind.  Von Untiefen und Bänken umgeben sowie von starken und unberechenbaren Strömungen umspült, sind sie meist unbewohnt und vom herben Hauch abenteuerlicher Lockung umweht.  Oftmals ist dieser romantische Reiz in Wirklichkeit kompromisslose Unzugänglichkeit, denn die Eilande sind allesamt wasserlose Krümel im Ozean.  Korallenkalkbrocken, von den Gezeiten zu pilzförmigen Skulpturen geformt, gestrüppüberwucherte Sandhaufen, die kaum die Linie der Kimm zu unterbrechen wagen.  Beispielsweise die beiden drei Meter hohen African Islets der Amiranten, die laut Seehandbuch nur an lächerlichen Details zu identifizieren sind: „...die nördlichste der buschbewachsenen Inseln trug 1948 eine Kokospalme, die südlichste eine große Hütte an der Westseite...“

Meist ist es strittig, wer diesen Fliegendreck auf der Weltkarte wirklich entdeckte.  Auch hier tummelten sich arabische Seefahrer lange vor den Entdeckern, die in unseren Geschichtsbüchern ein einseitiges Weltbild prägen.  Aber gerade wegen dieser Ungewissheit, in die ein romantisch veranlagter Funkenpuster die spekulative Möglichkeit unentdeckter Robinson-Eilande hineinträumte, war das Auftauchen der kleinen Schatten am Horizont immer wieder aufregend.

So war es, wenn unser Zement-Tanker an Menai vorübertuckerte, das mit seinen haushohen Mangrovendschungeln einen dunklen Strich auf die Kimm zeichnete.  So war es, wenn Aldabra auftauchte, ein Juwel, eine der letzten jungfräulichen Inseln unserer schrumpfenden und bis in den intimsten Winkel durchleuchteten Big-Brother-Welt.  Auf diesem größten Atoll der Erde, wegen der letzten 150.000 wild lebenden Elefantenschildkröten östlich des Nullmeridians auch das ‚Galapagos des Indischen Ozeans‘ genannt, hatten die Briten 1966 einen Militärflughafen bauen wollen.  Zum Glück war eine derartige Barbarei verhindert worden.  1982 hatte dann die UNESCO das Eiland zum Weltkulturerbe erklärt!  Und irgendwie aufregend fand ich es auch, wenn wir regelmäßig das weiße Inselkreuz von Astove aufleuchten sahen...

 

Astove, ein Korallen-Eiland südsüdöstlich der Cosmoledo-Gruppe, war immer unser Ansteuerungspunkt zwischen Mombasa und Kap d’Ambre, der Nordspitze Madagaskars.  Eines Tages hatten die Zementfahrer ihrer Neugierde nachgegeben und Astove einen Besuch abgestattet.  Obwohl man sicher war, ein unbewohntes Atoll vorzufinden, hatten ein paar Unentwegte Zigarettenstangen mitgenommen, auf die alte Seefahrertradition des Tauschgeschäfts (‚Tschinschi-por-tschinschi‘) setzend.  Allerdings hatten die Pfiffikusse Handelsbeziehungen eher ‚ideellen‘ Charakters im Sinn gehabt: Nikotin und Rauch im Austausch gegen Zärtlichkeit und Liebesrausch.  Doch als das Rettungsboot vorsichtig das Riff kratzend am weißen Sandstrand aufgesetzt hatte, war aus dem Schatten einer Kasuarina statt liebeshungriger Südseemädchen ein braungebrannter Europäer getreten und soll gefragt haben: „Who’s the leader of this expedition? – Wer ist der Leiter dieser Expedition?“

Das war kurz vor meinem Kontraktbeginn in Kenia, und einige Monate später, Ende Juli 1969, hatte ich während eines Inselbesuchs Gelegenheit, Zeuge einer modernen Robinsonade zu werden. 

Wieder trat der braungebrannte, bärtige Herr der Insel an den weißen Korallensandstrand, um uns zu begrüßen.  So lernte ich Richard Mark Veevers-Carter und seine Frau Wendy kennen.  Die beiden bewohnten mit ihren drei Kindern im Alter von drei, acht und zehn Jahren, sowie einem knappen Dutzend Seycheller – Arbeiter mit ihren Familien – das abgelegene Korallenatoll.  Mark und Wendy Veevers-Carter – er Brite, sie Amerikanerin -, hatten Astove von der Seychellen-Verwaltung für 99 Jahre gepachtet, nachdem sie bereits 1967 auf einem Riffinselchen der Amiranten das Leben abseits der Zivilisation erprobt hatten.  Wendy Veevers-Carter hatte über diese Erfahrungen ein Buch geschrieben (‚Island Home‘ bei Random House erschienen).  Während wir den Strand hoch stapften, fragte ich den Robinson, wie teuer die Pacht sei. – „Etwa 75 Shilling.“ – Das waren noch nicht einmal 40 Mark im Monat. „Für die ganze Insel?“ hakte ich erstaunt nach. „Ja.  Für die Insel und deren Nutzung. Niemand hatte Interesse an Astove, und mehr als Kopra von den Kokospalmen (das getrocknete Mark der Kokosnüsse) ist auch nicht herauszuholen.  Der Guanoabbau ist ja längst verboten.“ „Guanoabbau?“ „Ja, hier gab es mal eine kleine Niederlassung Anfang des Jahrhunderts.  Dann wurde in den dreißiger Jahren Guano abgebaut.“  Er beugte sich nieder, ließ Sand durch seine Finger rieseln und zeigte uns dunkelgraue Reste: „Das ist Guano.  Aus jener Zeit stammen auch die verwilderten Baumwollbüsche, Sisalagaven, Mais- und Tabakpflanzen.  Und unser altes Haus dort drüben, Baujahr so um 1917...“

 

Anscheinend war der Guanoabbau auf Astove nicht so ausbeuterisch betrieben worden wie auf der ‚benachbarten‘ Insel Assumption.  Dort war durch Raubbau das Pflanzen- und Tierleben so gut wie ausgelöscht worden.  Allerdings war das sagenhafte Leben unter Wasser völlig unberührt geblieben.  Als Jacques Cousteau diese Inselwelt und das Riff vor Assumption Mitte der fünfziger Jahre besuchte, war er von dessen Reichtum so verblüfft, dass der geplante Aufenthalt „von einem Nachmittag auf vierzig Tage“ erweitert wurde...

Zurück zum Crusoe von Astove.  Er führte uns zu einer urwüchsigen Hütte, die einst dem Guano-Manager als Unterkunft gedient hatte und über ein halbes Jahrhundert alt war.  Sie diente nun der Familie als Heimstatt.  Näher zum Strand hin lag ein Trimaran.

„Unsere Lebensversicherung“, sagte Mark Veevers-Carter lächelnd.  Er deutete damit die völlige Abgeschiedenheit von der Außenwelt an. – „Nun aber zeige ich euch unser neues Haus und ein bisschen von der Insel...“

Astove ist ein Bilderbuch-Atoll.  Vor etwa 50.000 Jahren hatten sich Korallentierchen um eine im Ozean versinkende Vulkanspitze angesiedelt.  Weil sich das Tempo des Vulkanuntergangs und die Geschwindigkeit der nach oben strebenden Korallenkolonien zu Gunsten der fleißigen Korallenpolypen verschob, war ein Atoll entstanden.  Ein mehr oder weniger ringförmiges Riff, das auf der untergegangenen Vulkanspitze ruht.  Die Spitze versank, verwitterte und wurde zu einer Lagune.  Aus einem derartigen Korallenkranz, der eine Lagune umschließt, besteht Astove.  Der türkis schimmernde Salzwasserteich hat nur an einer Stelle einen schmalen Zufluss zum Ozean.  Die Insel ist 3,7 km lang und 2,3 km breit.  Von dieser Fläche muss man allerdings die Ausdehnung der zentral gelegenen Lagune abziehen, so dass ein Areal von rund sechs Quadratkilometern, genaueren Quellen zufolge 661 Hektar, übrigbleibt.  Ein Landring also, der maximal 600 Meter breit ist.  Die höchsten Sandhügel erreichen knapp vierzehn Meter, und das ganze Idyll lässt sich auf einem Sieben-Meilen-Spaziergang in etwa vier Stunden umrunden.

Durch dieses kleine Paradies begleitete uns der knorrige Aussteiger.  Wir schritten durch einen ausgedehnten Kokospalmenhain.  Mark zeigte uns den aus Korallenkalkblöcken gefügten Rohbau eines 17-Zimmer-Hauses mit einem wachturmähnlichen Ausguck.  Außerdem Pferdeställe sowie eine kleine Kapelle für die katholischen Seychellen-Insulaner.  Wir staunten!

„Ich hatte schon mal zweihundert Arbeiter auf der Insel, als wir am anderen Ende eine Flugpiste anlegten.  Als Selbstversorger haben wir bereits Schweine, Ziegen, Hühner, Gänse, Tauben und etwa 35 Rinder auf das Eiland gebracht“, und der Pionier gestand, dass er längst 20.000 Pfund in das Abenteuer investiert habe!

Als wir zur Meerwasser-Lagune gelangten, die nur einen Meter tief war, erläuterte er uns seine Zukunftspläne: „Wenn ich die Lagune vom Meer trenne, also die Öffnung des Atollringes schließe, hat sich in schätzungsweise fünf Jahren das Wasser soweit mit dem Monsunregen vermischt, dass wir Reis anbauen könnten. Außerdem kommen unzählige Meeresschildkröten hierher zur Eiablage...“ – Und er beschrieb uns, dass er Teile der Gelege einzäunen und eine Schildkrötenfarm aufziehen wolle.  Er steckte voller handfester Ideen, wollte Tiere und Pflanzen von Ostafrika herüberbringen, wollte das Eiland entwickeln, einen florierenden Gutshof inmitten des Indischen Ozeans aufbauen.  Vielleicht ließe sich zusätzlich so etwas wie eine Gäste-Ranch betreiben, obwohl er die wohldosierte Einsamkeit seines Abenteurerlebens nicht aufzugeben gedachte, hatte er doch schon auf den fernen Marquesas im Pazifik das Insulanerdasein schätzen gelernt... „Wie steht es eigentlich mit der Wasserversorgung?“ fragte ich, denn auf Koralleninseln gibt es normalerweise keine Quellen.  „Das ist ein Problem auf allen diesen Inseln.  Wir müssen Regenwasser in Zisternen sammeln und sparsam damit umgehen.  Auch die Moskitos sind, wenn der Passat oder der Monsun einschläft, eine verdammte Plage!  Ich könnte natürlich die ganze Insel mit Insektenvertilgungsmittel besprühen lassen.  Aber dann gingen auch die herrlichen Nachtfalter ein, von denen es ein paar ganz seltene, endemische, auf unsere Insel beschränkte Arten gibt...“

Die Frau des Robinsons war eine schlanke, sympathische Mischung aus ‚Country-Girl‘, Lehrerin und alternativer Nonkonformistin mit kastanienrotem Haar und kecken Sommersprossen.  Von Wendy Veevers-Carter erfuhr ich einiges über die ureigene Vergangenheit des kleinen Stücks Erde.

Selbst die isolierteste Sandbank in der Einöde der Weltmeere wird aus ihrem jungfräulichen Schlummer der Zeitlosigkeit gerissen, sobald sie der Mensch betritt und ihr durch seine Spuren ein mehr oder weniger schmerzhaftes Brandzeichen aufdrückt.  Nicht selten aber versinkt die kurze Spanne menschlichen Dagewesenseins als belanglose Episode im gewichtigen Sturmgewoge der Historie.  Die Geschichte eines Korallenatolls bleibt so unbekannt wie die Existenz unentdeckter Sterne.  Es sei denn, dass irgendwelche abenteuernde Spinner in trotziger Auflehnung die Entdeckungs- und Besiedelungs-Story eines beknackten Weltmeer-Fliegenschisses faszinierender finden, als die heroischen Welteneroberungsfahrten der großen Entdecker.

Mag sein, dass die beherzten Söhne Sindbads in ihren zähen Dhauen das Inselchen als erste gesichtet haben.  Oder es waren sogar die indonesischen Meeresnomaden, die zuvor mit ihren Auslegerkanus gen Madagaskar gesegelt waren, um späteren Völkerkundlern ein reichhaltiges Forschungsfeld zu bereiten.  Möglicherweise haben auch in dieser Hemisphäre die undurchschaubaren Fahrten ägyptischer Papyrusboote sowie die heimlichen Kurse schlitzohriger phönizischer Kauffahrer die Glaubwürdigkeit rechthaberischer Geschichtsschreibung durchkreuzt.  Unsere Schulbuch-Portugiesen werden den Korallenkrümel sicherlich links liegengelassen haben.  Lohnte keine Eroberung.  Vielleicht aber stammt der alte Namen ‚Astova‘ von ihnen.  Bestimmt haben skorbutische Piraten ihre rheumasteifen Glieder am Sandstrand ausgestreckt und beim Zählen ihrer Beute hin und wieder ein Goldstück verloren, denn auf Astove wurden einige Goldmünzen gefunden.  Von Schiffsunfällen oder unfreiwilligen Landungen zeugen an der Nordwestecke des Atolls ein alter Anker und eine betagte Kanone.  Taucher, die Astoves Riffwall als den Taucherwahnsinn schlechthin bejubeln – brechen doch all diese Inseln der Aldabra-Gruppe aus einer Ozeantiefe von mehreren Tausend Metern hoch ans Tageslicht -, wissen von unzähligen verlorenen Ankern und Ankerketten zu berichten.

 

Verbürgt ist, dass 1836 der britische Offizier Sterling mit seiner Frau Sibella, dem Bootsmann Spurs, zwei Hunden und mehreren Schafen am menschenleeren Ufer des Eilandes strandete.  Spurs segelte weiter, vermutlich, um Hilfe zu holen.  Er wurde jedenfalls später der erste Siedler auf dem Ringatoll.  Das zurückgebliebene Paar lebte drei Monate lang als Schiffbrüchige auf der Südostecke, bis ein Walfänger der Robinsonade ein Ende setzte und die Gestrandeten übernahm.

„Da gibt es einen alten Baum auf der Insel mit Eingravierungen der ersten Besucher...“, erzählte Wendy Veevers-Carter weiter.  Sie berichtete von einer französischen Kompanie, die im neunzehnten Jahrhundert die Kokospalmen anpflanzte.  1909 sei eine kleine Niederlassung an der Westseite errichtet worden, und später habe man mit dem Guanoabbau begonnen.

Ich war hingerissen von Astove und seinen Bewohnern, vom Fluidum des Robinson-Refugiums, von der Herausforderung, dem Abenteuer.  Heiße Diskussionen hatte ich durchzustehen an Bord.  Beim Abwägen der Risiken eines derartigen Unternehmens vergaßen die meisten, dass sie auf einem Schiff ähnlich isoliert waren wie auf einer einsamen Insel.  Dass sie von der beispielsweise medizinischen Absicherung der Zivilisation genauso abgeschnitten waren.  Mit kleinen Neckereien wollte man meine romantischen Spinnereien aufmischen, unter anderem dadurch, dass man den Flecken in der Seekarte in ‚Covi-Island‘ umbenannte.  Das fand ich natürlich eher schmeichelnd, und ich beäugte die Gestade bei jedem Passieren wie den liebreizenden Körper einer heimlichen Geliebten...

Etwa drei- bis sechsmal im Monat sahen wir das Atoll über die Kimm steigen und hinter uns im Meer der Sandsch versinken.

Am 9. März 1970 traf unser Zweiter Offizier den Insel-Robinson auf der Terrasse des ‚Castle-Hotel‘ in Mombasa.  Welch ein Hallo!  Mark erzählte, dass er einiges zu erledigen habe und deshalb mit einem heransignalisierten japanischen Fischdampfer nach Mombasa gefahren sei.  Auch müsse er zum Zahnarzt, na, man sehe sich ja sicher bald mal wieder draußen auf dem Atoll...

Am 15. März 1970 verhinderte hoher Schwell (Dünung) das Einlaufen in Port des Galets auf La Réunion.  Wir wichen nach Mauritius aus, kehrten zwei Tage später zurück, löschten unsere Zementladung – ein wahnsinniger Bauboom hatte das französische Übersee-Departement erfasst – und liefen am Abend des 17. März Richtung Mombasa aus.  Die Wetterlage sah böse aus: Der Zyklon ‚Katia‘ stand nördlich der Maskarenen, westwärts ziehend.  Kollisionskurs, ohne Zweifel...

Am folgenden Tag schon saßen wir dem wirbelnden Mädchen auf dem heißblütig schaukelnden Schoß.  Sie tobte sich ungehemmt an uns aus und zerriss mir aus purem Übermut die Funkantennen.  Kurz zuvor aber hatte ich noch ein Telegramm aus Mombasa empfangen: „mr. veevers-carter von astove-island am 11. maerz 1970 beim zahnarzt waehrend narkose gestorben stop da kein kontakt mit astove moeglich, anlaufet insel und evakuiert familie...“

Der Astove-Crusoe tot?  Wir waren fassungslos!  Mit Zahnschmerzen war der Naturbursche mal kurz und gezwungenermaßen in die Zivilisation zurückgekehrt – und dort sollte es ihn erwischt haben?  Kein Zyklon hatte ihn umgebracht.  Kein Hai, kein Schiffbruch, keine herabstürzende Kokosnuss.  Er war weder verdurstet noch hatte ein giftiger Fisch oder etwas ähnlich Unberechenbares wie eine akute Blinddarmentzündung sein Dasein ausgelöscht.  Nein, beim renommiertesten Zahnarzt von Mombasa hatte der Zweiundvierzigjährige unter Anästhesie sein Abenteurerleben ausgehaucht!

Wir waren telegrafisch angewiesen worden, die Witwe mit den beiden Jungen von der Insel zu holen.  Die achtjährige Tochter war bereits mit ihrem Vater nach Kenia gefahren, sozusagen per Anhalter auf dem erwähnten Fischdampfer.  Freunde, bei denen sie wohnten, hatten es nicht gewagt, dem Mädchen den Tod des Vaters mitzuteilen...  Unglücklicherweise hatte Mark sämtliche Radios zur Reparatur mitgenommen.  Die Insulaner waren völlig von der Außenwelt abgeschnitten, konnten also auch nicht die Aufrufe und weltweiten Äther-Botschaften der BBC empfangen.

Der Zyklon verzögerte unsere Ankunft um zwölf Stunden.  Am 20. März lagen wir dann vor dem Korallenriff.  Es war keine schöne Aufgabe, der lächelnd am Strand wartenden Ahnungslosen die Tragödie mitzuteilen.  Als unser Boot aufsetzte und wir ans Ufer wateten, fiel dem Ersten noch vor lauter Aufregung der Brief ins Wasser, in dem unser Kapitän die bitteren Umstände unseres plötzlichen Erscheinens erläuterte.

Als wir am nächsten Morgen Wendy Veevers-Carter mit ihren beiden Söhnen abholten, gab es eine zu Herzen gehende Szene: Der kleine Dreijährige umklammerte eine Kokospalme und schrie: „Ich will nicht von meiner Insel runter!“ – Nur sanfte Gewalt und gutes Zureden der Mutter und der zurückbleibenden Seycheller brachten den Knirps zur heulenden Aufgabe seiner kleinen, für ihn aber großen heilen Welt...

Während der Weiterfahrt nach Kenia unterhielt ich mich ausführlich mit der jungen Witwe.  Ich war erstaunt, wie aufgeweckt und informiert die Kinder waren, vor allem der zehnjährige Älteste, der mir beim Durchstöbern von Illustrierten die Örtlichkeiten und Persönlichkeiten des Weltgeschehens spontan benennen konnte.  Keine Spur von Hinterwäldlertum, trotz des Ersterlebnisses einer Schmalfilmvorführung!  Vielmehr die herzerfrischende Aufnahmebereitschaft glücklicher Kinder, die vor allen Schäbigkeiten des Stadtlebens bewahrt worden waren.  Doch die Mutter war sich der Probleme durchaus bewusst, die auf ihre Kinder in ihrer Insulaner-Unverdorbenheit lauerten, sobald sie der Welt außerhalb ihres Atolls ausgeliefert sein würden.

In Mombasa wartete bereits die Presse.  „Widow from ‚Crusoe‘-Isle reaches Mombasa“ und ähnliche Schlagzeilen zierten die Zeitungen.  Mark Veevers-Carter war längst beerdigt worden.  Die Mutter der Witwe war mittlerweile von New York eingetroffen und hatte sich der Enkelin angenommen, die bei Freunden immer noch auf die Rückkehr ihres Vaters geharrt hatte...

Am 11. April 1970, genau einen Monat nach dem Tod des Inselherrn, setzten wir die hinterbliebene Familie wieder auf Astove ab.  Der Jüngste hatte schreckliches Heimweh nach seinem ‚Island-Home‘ gehabt.  Die Witwe war sich noch nicht klar darüber, was mit dem Eiland geschehen sollte.  Sie gab an, dass es mindestens ein Jahr dauern dürfte, bis sie alles verkauft habe oder jemandem zur Verwaltung übergeben könne.  Ihre Mutter, eine prächtige alte Dame von weit über siebzig Jahren, begleitete die Familie.  Mrs. Day war die Gattin des verstorbenen amerikanischen Bestsellerautors Clarence Day (Buchtitel: ‚Life With Father‘).  Weil das Gezeitenwasser niedrig stand, konnten wir mit unserem Rettungsboot nicht über den Riffsockel des Atolls.  Also mussten die Passagiere in ein Kanu umsteigen, um die letzten ein- bis zweihundert Meter bis zum Strand zurückzulegen.  Die alte Mrs. Day war kaum zu bremsen: „Was?“ rief sie empört.  „In ein Kanu umsteigen?  Da können wir doch rüberschwimmen!  Im Kraulen über hundert Yards war ich schon immer gut!“ – Wie gesagt, sie war eine köstliche alte Dame mit einem jung gebliebenen Herzen auf dem richtigen Fleck.

Um das Robinsongestade nicht abermals von der übrigen Welt isoliert zurückzulassen, zeigte ich den Inselbewohnern, wie sie unsere Funkstation auf 3.197 Kilohertz empfangen könnten.  Ein Test vor Ort lief befriedigend ab: Der Kapitän rief uns auf dem Atoll aus einem krächzenden Kofferradio-Lautsprecher.  Es war natürlich nur eine einseitige Schiff-Land-Funkverbindung.  Und so meldete ich mich alle paar Tage zur Mittagsstunde über den Äther.  Tuckerten wir an Astove vorüber, so bat ich um Empfangsbestätigung durch ein auffälliges Zeichen am Inselkreuz, das man übrigens auf vielen Seychelleninseln am Strand vorfindet.

Ende April teilte ich den Eiland-Pionieren mit, dass ihre Seychellen-Passage in Mombasa gebucht worden sei und wir sie Anfang Mai abzuholen gedächten.  Um seinerzeit auf die Hauptinseln der Seychellen zu gelangen (der Staat besteht heute aus 115 Inseln, wovon 36 bewohnt sind), musste man rechtzeitig auf einem der wenigen nach Mahé laufenden kleinen Frachter buchen oder auf einen zufälligen Insel-Schoner hoffen.  Also übernahmen wir die Familie abermals, die Astove nun den Händen von vier Arbeitern, ihren Frauen und deren sieben Kindern anvertrauten.  Es war ein wehmütiger Abschied!

Als unser CEMENT-CARRIER am 14. Juli ganz dicht an dem verwunschenen Tropengestade entlang fuhr und mein Sprechfunkruf von winkenden Menschen beantwortet wurde, schien es, als habe Wendy Veevers-Carter die Inselfarm wieder übernommen.  Wir rätselten...

Erst Anfang September 1970 war uns die nächste Landung auf Astove möglich.  Und tatsächlich: Wendy und ihre Mutter, Mrs. Day, waren wieder anwesend.  Während die Damen auf unserem Schiff den Kapitän besuchten, nutzten meine Kameraden und ich den vierstündigen Aufenthalt zur weiteren Erkundung des Geländes.  Unsere kenianischen Matrosen wurden von einem jungen blonden Mann auf Kisuaheli angesprochen.  Scherzend sagte er ihnen die richtige Stammeszugehörigkeit auf den Kopf zu und stellte sich als Ian Ross vor: Spross einer bekannten Farmerfamilie in Kenia.  Mit ihm polterten wir auf dem einzigen Fahrzeug der Insel, einem klapprigen Traktor, durch die Palmenhaine, die als monsunzerzaustes grünes Filigran vor graublauen Gewitterwolkenbänken fächelten.  Ian Ross führte uns zur Flugpiste, einem verwegenen Landestreifen.  „‚Wilkenair‘ macht demnächst regelmäßigen Service zwischen Kenia und Mahé, mit Zwischenlandung auf Astove zum Auftanken“, sagte Ian.  Wir waren baff!  „Ja“, fuhr er fort, „wir hatten bereits ein paar Fuhren mit Touristen!“ – Er zeigte uns eine Dschungelhütte, wo Benzinfässer lagerten und eine Handpumpe hing.  Dies war sicherlich eine der abenteuerlichsten ‚Transithallen‘ einer nicht minder außergewöhnlichen Flugstrecke, der damals ziemlich einzigen Flugverbindung zur Hauptstadt der Seychellen.  Der Zement für den Runway des späteren internationalen Flughafens Pointe Laroue wurde aber schon emsig nach Port Victoria gekarrt.  Mit jeder Tonne des staubenden Baustoffs kam das Ende einer vielleicht noch paradiesischen Idylle näher.  Spätere Putsch- und Umsturzversuche mit Unterstützung südafrikanischer Söldner sollten zeigen, wie tief die Seychellen, die 1976 ihre Unabhängigkeit erhalten hatten, mittlerweile in die Fangstricke des internationalen Großkapitals und geopolitischer Machtstrategen verwickelt wurden.  Tröstend ist, dass der Inselstaat es angeblich geschafft hat, durch einen regulierten sanften Tourismus die Idyllzerstörung zu verhindern...

Mittlerweile ist Astoves Buschpilotenpiste sicherlich wieder überwuchert und ungestörter Landeplatz schreiender Seevögel.  Was aus dem Korallenatoll letzten Endes wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.  Heute, im Jahr 2001, gibt das Internet ein paar vage Informationen, die auch nicht immer stimmen.  Da kann man in einem ‚Aldabra Diary‘, das ansonsten sehr informativ ist, unter ‚www.futureworld.co.za‘ lesen, dass eine skandinavische Familie die Kokosplantage auf Astove angepflanzt habe und der Leichnam des Familienoberhaupts, nach dessen Tod in Mombasa, der völlig geschockten Familie zurückgebracht worden sei.  Ein einfaches Kreuz ziere sein Grab...  Na ja, der Autor kannte wohl nicht die Tradition der Seychellen-Inselkreuze.

Der Plan, mich mit meiner Frau für eine Weile auf dem Eiland aussetzen zu lassen, platzte damals leider.  Wir waren zu lange dem Zauber der ostafrikanischen Savannen verfallen, und es blieb uns keine Zeit mehr für ein Inselabenteuer, das bestimmt einmalig gewesen wäre!

Ein paar Mal hatte ich vergeblich versucht, mit der inzwischen auf Astove installierten Sprechfunkstation ‚Sibella‘ Funkkontakt aufzunehmen.  Am 18. November 1970 notierte ich: „Passieren Astove.  Insel wahrscheinlich geräumt und völlig unbewohnt.“ – Und am 30. Dezember: „Passieren Astove.  Glaube, zwei Menschen am Strand gesehen zu haben.  Doch noch bewohnt?“

 

Am 28. April 1971 sah ich den liebgewonnenen Inselflecken zum letzten Mal ganz dicht vorüberziehen.  Dieses mit dem Flair des Robinsonabenteuers behaftete Stückchen Einsamkeit, das langsam in der Endlosigkeit des Indischen Ozeans versank und ein wehmütiges Sehnen in mir zurückließ...    

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Leseprobe:

90. Kakerlaken und anderes Getier

Auf den alten Pötten und Fischkisten gab es sie noch: Kakerlaken.  Reichlich waren sie vorhanden, unverwüstliche sechsbeinige Bordgenossen.  Sie flitzten vorzugsweise durch feuchtes, dunkles Revier.  Kombüse, Provianträume, Pantry, alles beste Adressen!  Aber auch in den Kajüten fühlten sie sich wohl, ließen ihre neugierigen Antennenfühler aus dunklen Ritzen oder Steckdosen hervorlugen und machten des Nachts gerne Besuch.  Welch einsames Seemannsherz hatte nicht Freude daran, wenn Conchita, Trudhilde, Vanessa oder wie immer er die braunen Cucaracha-Mädels nennen mochte, auf der Kojenkante entlangflanierten und mit zärtlichem Antennenklimpern Zuneigung signalisierten!

Auch ich hatte unter hautnahen Annäherungsversuchen zu leiden.  Eines Nachts schreckte ich entsetzt hoch.  Grauenhafte Geräusche hatten mich geweckt.  Eine Kakerlake hatte sich in meinem linken Ohr verirrt und versuchte nun im Gehörgang sechsbeinigen Flamenco zu tanzen.  Das war mir nun doch zu viel, und ich antwortete mit tödlicher Notwehr.  Es war vermutlich als Sühne für den Kerbtiermord gedacht, dass ich die Flamencotänzerin in Einzelteilen aus meinem beleidigten Funklauscher pulen musste.  Eine elende Pfriemelei!  Schon der Akt des Kakerlakenkillens war eine knackgeräuschige Kakophonie gewesen, ein lauter, mörderischer Krimi im Gehörgang.  Grausam!  Aber versuchen Sie mal, eine wuselige Cucaracha, die sich immer tiefer buddeln will – die hätte sich bestimmt irgendwann in meinen sieben Gehirnwindungen verirrt – noch rechtzeitig im Ohr zu zerquetschen!

Auf modernen Schiffen mit Klimaanlagen waren Schaben ziemlich selten geworden.  In ihrer Zählebigkeit schafften sie es aber nie, auf die Artenliste für bedrohte Tierarten zu kommen.  Es gab die typische braune Schiffskakerlake, die absolut seefest war.  In den Tropen begegnete man bereits an der Pier den dunklen und viel größeren Cucarachas.  Das waren die so genannten ‚T-34‘, Miniaturpanzer, flugfähige Schreckmonster mit Ekelfaktor.  Aber man lernte, mit ihnen zu leben, sie vorsichtig aus Cola-Rum-Gläsern, oder den Ausschnitten hysterischer Señoritas zu fingern.  Sie verirrten sich schon mal an Bord, blieben aber sonst grundsätzlich an Land.

Wurde es zuviel mit dem Kerbtiergewimmel, bemühte man einen Kammerjäger oder sprühte gleich selber bordseitig Gift.  Wir hatten immer den Verdacht, dass die Viecher anschließend noch aufdringlicher wurden, die Giftspritzerei eher die Wirkung eines Vitaminstoßes hatte.

Auf meinem ersten Schiff fühlten wir uns so sehr von Kakerlaken belästigt, dass wir Fallen bauten.  Der Koch hatte bereits zwei Zentner Zucker über Bord werfen müssen, weil die süßen Kristalle zur Hälfte mit Kakerlakenkörperteilen durchsetzt waren.  Selbstverständlich fanden sich die Proteineinlagen ebenso im Brot oder in laschen Gemüseresten, die uns der Kombüsen-Chef als ernährungsbewusste Beilage anzudrehen versuchte.  Den Cucarachas als Trapper nachzustellen war denkbar einfach.  In ein leeres Konservenglas brachte man als Köder etwas Bier und Brot.  Die Biester liebten so etwas Feuchtgammeliges.  Um ihnen den Weg zu erleichtern, klemmte man ein Stöckchen in die Glasöffnung.  So konnten sie sich einfach ins orgiastische Fressgelage fallen lassen.  War genug Bier im Glas, ersoffen sie im Suff.  Schafften sie dennoch den Weg nach oben, lauerte dort als wichtigster Bestandteil der Falle ein Ring aus Butter.  Das war pure Heimtücke!  Denn über diese Glitschstrecke schafften es auch sechs Beine im Geländegang nicht mehr.  Die Kakerlaken rutschten endgültig in die Tiefe und erlitten einen gnadenlosen Tod.

An fremden Küsten wurde dem Seemann manchmal allerlei exotisches Getier zum Kauf angeboten.  Oft war es Mitleid mit der Kreatur, oft auch das Entzücken über die Vorstellung, einen anschmiegsamen Spielgenossen während der einsamen Wochen auf See zu haben, was ihn den Handel abschließen ließ.

Es war ebenfalls auf meinem ersten Schiff, einem nostalgischen Stückgutfrachter, als plötzlich ein paar eigenartige Tiere durch die Niederungen des Mannschaftslogis liefen.  In Guayaquil, Ecuador, hatten sich die Janmaaten von den Einheimischen die putzigen Kreaturen andrehen lassen, irgendetwas zwischen Dackeläffchen und Waschbärkatze.  Es waren ‚Coatis‘, Nasenbären, nachtaktive Wuselwesen, die dauernd eingefangen werden mussten in ihrem Drang nach Action!

Zwei Leichtmatrosen teilten sich auf demselben Schiff die Kammer mit einem kleinen Affen.  Das pfiffige Tierchen brachte viel Freude, aber auch Ärger.  Zum Beispiel dann, als es in der Kajüte wirklich den Affen raus ließ und zwei Kartons Zigaretten à 200 Stück buchstäblich atomisierte.  Darüber freute sich nur der Steward, weil dessen Umsatzglöckchen fröhlich klingelte.  In der nebelverhangenen Herbsttristesse auf der Themse, Monate später, drehte einer der Männer durch und ließ seinen Frust an dem armen Tier aus.  Er schnappte sich das schreiende Äffchen – und warf es mitleidlos über Bord...

Die Fahrensleute an Bord der Schiffe waren genauso tierlieb wie jeder beliebige Landbewohner.  Und es gab unter ihnen ebenso viele Zeitgenossen, die sich unüberlegt Tiere zulegten, sich über Folgen und Verantwortung keine Gedanken machten.  Hinzu kam, dass Vorschriften und Gesetze den Besitz von Tieren an Bord regulierten.  Man konnte leicht in Teufels Küche kommen, wenn man beispielsweise mit 16 Graupapageien in den Kontrollmechanismus der Rotterdamer Zollfahndung geriet.  Das war im Mai 1972, die Jungs hatten jeweils den Besitz eines Papageis in der persönlichen Zoll-Liste eingetragen, dort, wo auch Zigaretten, Alkohol oder Kameras aufgeführt worden waren.  Dem Zollfahnder war es aber doch suspekt vorgekommen, dass gleich sechzehn der schönen Vögel an Bord das Krächzen übten.  Er war ein ziemlich muffeliger Vertreter seiner Zunft, aber ich konnte ihn überzeugen, dass hier nur Nachahmungstrieb innerhalb der Mannschaft eine derartige Vogelkonzentration verursacht hatte - und keine Schmuggelabsicht.  Das war natürlich fast gelogen, denn einige der Jungs hatten selbstredend den schnöden Mammon im Kopf gehabt, als sie die armen Vögel in Westafrika kauften.

Leider war in früheren Jahren Geschäftemacherei mit Tieren oft ein Motiv, einen seltenen Papagei oder gar einen Schimpansen von Wilderern zu kaufen.  Mir wurde erzählt, dass damals in der Afrikafahrt einige wertvolle Tiere als lukratives Nebengeschäft beispielsweise an Tierhändler in Antwerpen verhökert worden seien.

Als ich in Mombasa auf einem Ostafrikafahrer einen Besuch machte, zeigten mir ein paar Kollegen ihre Salzwasseraquarien und ihre Tauchausrüstung.  In den Aquarien schwammen die buntesten Korallenfische.  Stolz erzählten sie mir, dass ihnen die exotischen Fische in Europa – auch in diesem Fall wieder mal in Antwerpen – mit Kusshand abgekauft würden.

„Der da bringt 20 Mark, der da auch, und hier, der kostet 150 Mark!“ deutete einer begeistert auf die Beute im Aquarium und meinte weiter: „Da brauchst du eigentlich nur neben dem Schiff zu tauchen und die Burschen mit dem Käscher einzufangen...“

Es war jene Zeit, da in Ostafrika der Naturschutz die kleinen Kreaturen der Küste noch nicht im Sinn hatte.  Alles war ja noch vermeintlich im Überfluss vorhanden.  Aus jener Zeit stammt auch die Meerschneckensammlung meiner Frau, die den Kauris auf den Korallenriffen vor Kenias Küste noch ungestraft hatte nachstellen können.

Meistens bewegte sich ein Schiff durch ursprünglichste Natur.  Weitab jeglicher Zivilisation kamen dann mitunter Vögel an Bord, die allem Anschein nach noch nie einem Menschen begegnet waren.  Wir saßen einmal in der Messe, hatten vom letzten Hafen noch reichlich Fliegen an Bord, als durch das offene Bullauge ein kleiner Piepmatz hereingeflogen kam und sich dieses Problems annahm.  Er tat dies so unbefangen, dass wir wegen der kleinen Kreatur richtig ergriffen waren.  Er schnappte sich eine Fliege nach der anderen, flitzte zwischen Tellern, Schüsseln und Besteck hin und her und suchte von Zeit zu Zeit einen erhöhten Aussichtspunkt – meistens ein Haupt der ergriffenen Männerrunde.  Hatten sich wieder genügend Fliegen auf die bekleckerte Tischdecke gesetzt, ging das Insektenschnappen fröhlich weiter.  Irgendwann war er satt, und weg war er!

Weit draußen auf hoher See war ein Schiff oft die letzte Rettung müder Zugvögel.  Einmal kam ich abends in die enge, schummrig beleuchtete Kammer eines Matrosen.  Gemütlich saß er in seinem Sessel, las ein Buch und bat mich, seine Mackers nicht zu wecken.  Dabei zeigte er auf die schräge Antenne seines Kofferradios.  Dort hockten doch tatsächlich drei Schwalben eng aneinandergekuschelt.

Verirrte Vögel weckten in den Seeleuten immer das Gefühl, helfen zu müssen.  Ein befreundeter Seemann pflegte einmal einen verletzten Fischadler wochenlang, ertrug den beißenden Gestank des Greifvogels bis zu dessen gesundem Abflug in Richtung Freiheit.  Was sich nicht alles verirrte auf einem Schiff!  Auf der GRIESHEIM hatte sich ein Zwergkauz im Kabelgatt versteckt.  Und auf der MARIKA *) hatte sich in der Nähe der Bahamas ein großer Reiher an Deck gestellt.  Immer wieder drehte er seine Runden auf der Suche nach einer seichten Stelle, von der aus er sicherlich Fröschen und Fischen auflauern wollte.  Doch wir fuhren stetig nach Osten, hinaus auf den abgrundtiefen Atlantik, weitab von jedem Fleckchen Land.  Wir stellten ihm Süßwasser und Fischstücke hin, aber er rührte das Zeug nicht an, konnte nichts damit anfangen.  Wir hatten Mitleid mit dem Fischreiher, dem wir nicht helfen konnten.  Von Tag zu Tag wurde er schwächer.  Irgendwann flog er mit schweren Flügelschlägen davon – mitten auf dem Atlantik...

Auf einem dieser modernen kleinen Semicontainerschiffen, diesen Fischkisten mit ihren menschenfeindlichen engen Aufbauten, war eine zierliche getigerte Katze an Bord.  Ming war der Liebling des Chiefs.  Es war im Februar 1990, als Ming in Marsaxlokk auf Malta an Land ging – und nicht mehr an Bord zurückkehrte.  Es herrschte so stürmisches Wetter, dass wir aus dem Hafen auf See verholen mussten.  Wir waren alle betrübt, weil Ming verschwunden war.  Sie hatte uns manche kurzweilige Wache oben auf der Brücke bereitet, hatte sich den Kartentisch zum Spielplatz ausgesucht oder war ab und zu zum Schmusen in der Funkstation auf meinen Schoß gesprungen.

Während der Liegezeit im Hafen hatten wir an Land stets nach Ming Ausschau gehalten.  Es war schon eigenartig, wie die kernigen Seeleute allesamt unter dem Verschwinden des Kätzchens litten.  Mittlerweile war der Sturm auf Stärke 8 abgeflaut, so dass wir wenigstens vor Anker gehen konnten und uns nicht mehr treiben lassen mussten.  Aber wir dachten alle nur an unsere Katze...  Wir ahnten, dass sie höchstwahrscheinlich von einem dieser dahergelaufenen maltesischen schwarzen Obermacho-Hafenkatern angemacht, verführt und elendiglich vernascht worden war!

Es war der 11. Februar, an dem sie uns verlassen hatte.  Als wir endlich am 15. Februar wieder in Marsaxlokk einlaufen durften, entdeckte unser Chief eine völlig verängstigte Ming zwischen den riesigen Containern an der Pier.  Ach herrje!  Welch ein glückliches Wiedersehen!  Wir merkten bald, dass sie sich tatsächlich im maltesischen Hafenmilieu herumgetrieben hatte.  Sie war trächtig...

Am Ostermontag, den 16. April 1990, erreichten wir wieder mal den Hafen von Marsaxlokk.  Ein Bummel durch Valletta machte deutlich, dass der Tourismus bereits in vollem Gange war.  Diesmal waren uns nur wenige Stunden Liegezeit gegönnt.  Abends liefen wir Richtung nördliche Adria aus und gerieten in ein fürchterliches Schlackerwetter.  Unser hochschwangeres Katzentier war extrem aufgeregt und ängstlich.  Wir befürchteten, dass sie kurz davor war, ihre Jungen zu werfen, waren aber alle wegen des schlechten Wetters dienstlich voll gefordert und abgelenkt.  Zum Glück aber beruhigte sich das schlechte Wetter nach Mitternacht...

Beim Frühstück in der Offiziersmesse ging es ziemlich fröhlich zu.  Der Blitz – der Bordelektriker – erzählte, dass er der verzweifelt durch die Gänge streichenden Katze nachts seine Kammer geöffnet habe.  „Das arme Tier brauchte doch ganz dringend irgendeinen geschützten Winkel!  Na, und dann kam sie in meine Koje gekrochen, setzte sich auf meinen Bauch – und bekam fünf Junge...“

„Was?  Fünf Junge?“ rief der Chief entsetzt.  „Wo ist denn das Fünfte?  Ich habe nur vier gezählt!“

„Mal langsam“, beruhigte der Blitz.  „Es war ja dunkle Nacht.  Ich sah nur Schatten auf meinem Bauch.  Da war Ming, und dann ein, zwei, drei, vier kleine schwarze Schatten, die sie eifrig ableckte.  Und ich war ja auch ziemlich aufgeregt.  Jedenfalls habe ich noch mal die Schatten durchgezählt, und da waren es fünf...“

„Und?“

„Is‘ ja gut!  Irgendwann bin ich wohl eingepennt, und da waren es nur noch vier!“

Wir kamen dann auf den Dreh, dass es sich bei dem fünften Schatten um die Nachgeburt gehandelt haben musste.  Was wussten wir schon von Katzeninstinkt und Tierverhalten, aber wir hofften sehr, dass es nur die Nachgeburt war, die Ming aufgefressen hatte...   Und alle vier Katzenbabys waren – natürlich – rabenschwarze, wundervolle, einfach liebenswerte Kreaturen...

Als ich einst – zwischen 1963 und 1964 - auf einem der letzten Dampfschiffe unter deutscher Flagge im lateinamerikanischen Fahrtgebiet meine Heuer verdiente, hatten sich einige Besatzungsmitglieder in Brasilien Pinseläffchen gekauft.  Fünf dieser rührend kleinen Lebewesen bevölkerten unseren alten Steamer und sorgten für viel Freude.  Sie waren nicht größer als junge Meerschweinchen, eines von ihnen war schon eher von der niedlichen ‚Größe‘ einer Maus.  Der Steward hatte für diesen Winzling ein Holzhäuschen gebaut, postkartengroß und mit Putzwolle gefüllt.  Zum Trost für einsame Stunden hatte er seine Armbanduhr neben das Schlupfloch gehängt.  Verliebt lauschte das Affenbaby dem Ticken der Uhr, sein Gesichtchen mit den kleinen Pinseln hinter den Ohren war nicht viel größer als das Zifferblatt der Uhr.

Einer der Heizer nahm seinen Bordgenossen einfach mit auf Wache in den Heizraum.  Dort war es stets tropisch heiß.  Als sichersten Platz hatte das Pinseläffchen den dichten Haarschopf des Seemanns auserkoren.  Dort war es sicher wie im Fell der Mutter, hatte einen wunderbaren Rundblick und konnte sich auch mal zu einem Schläfchen in die Locken zurückziehen.  Man musste mitunter zweimal hinschauen, ob der Heizer nun mit oder ohne äffische Kopfbedeckung über den Dampfer schlurfte.

Der Dritte Offizier, mein bester Kumpel aus durchzechten Nächten an Brasiliens Küste, hatte eine schnuckelige Pinselaffendame.  Auch er nahm sie gerne mit auf Wache.  Oft – ehrlicherweise meistens – saß ich während meiner Funkwache vor der Tür der Funkstation.  Auf diesen glorreichen alten Rattendampfern war der Zugang zum Wohn- und Arbeitsbereich des Funkers noch von außen, meist der Brückennock, zu erreichen.  So ließ sich die Hörwache im sonnigen Frischluftbereich bestens ertragen.  Der Dritte setzte dann gerne sein Affenfräulein auf meine behaarte Brust, wo sie sich innig zurechtkuschelte.  Sein trockener Kommentar: „Sie hat Sehnsucht nach einem Artgenossen!“

Die größte Freude konnte man dem Affengetier machen, wenn man sie in die nächtliche Pantry brachte.  Dort musste vorher das Licht ausgemacht worden sein, denn wir wissen ja nun alle: Kakerlaken lieben die Schwärze der Nacht!  Und dann, Licht an, und los ging’s mit dem Freudenfest!  Die Früchte- und Insektenfresser griffen pfeilschnell nach dem flüchtenden Kakerlakengesocks.  Die kleinen Pfötchen hielten dann die strampelnden Cucarachas und ließen es sich knackend schmecken.  Eine bessere Symbiose, ein nützlicheres Zusammenleben zwischen Mensch und Pinselaffe, konnten wir uns gar nicht denken.  Die Äffchen wurden artgerecht satt, und wir wurden vom Ungeziefer befreit, den lästigen allgegenwärtigen Kakerlaken.

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