Hugo Wietholz Jugend - Rauhes Haus - Kriegsdienst
Jugendzeit bis zum Eintritt ins Rauhe Haus
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Lebensbilder von Diakonen des Rauhen Hauses
Die Bücher mit Lebensportraits von Diakonen des Rauhen Hauses als
Bände 11 und 13 in der gelben Buchreihe "Zeitzeugen des Alltags" von Jürgen Ruszkowski
Ein Leben im 20. Jahrhundert - 1909 - 1992: ein Pfadfinder-Diakon in Hamburg-Horn erzaehlt aus bewegten Zeiten...
2. Teil des von Hugo Wietholz selbst verfassten Textes: Kopien und Veröffentlichungen - auch auszugsweise nur mit vorheriger Genehmigung!
Der Text dieser Seite ist recht interessant, zeitgeschichtlich aufschlussreich und sehr umfangreich. Erschienen als eigenständiges Buch und auszugsweise als Beitrag in einem Sammelband von Diakonenlebensläufen.
Herkunft und Kindheit
Jugend von der Konfirmation bis zum Eintritt ins Rauhe Haus
Jugendzeit aus freier Erinnerung, 1938-1991 aus Tagebuch-Aufzeichnungen, abgeschlossen im Sommer 1992.
Vorher gab es aber noch ein anderes Ereignis. In unserer Straße lernte ich einen Jungen, Kurt Beisinger, kennen. Wir freundeten uns an und spielten zusammen, bauten hinten in seinem Garten eine Erdhöhle und hatten so unser Vergnügen. Eines Tages erzählte er mir, er sei in einer Jungengruppe in der Esplanade 12, im dortigen CVJM. Da ginge es toll her, Geschichten würden erzählt, Brettspiele gebe es und zum Schluss würde eine Andacht gehalten. Der Leiter, Herr Bock wäre ein prima Mann. Nun, ich sollte doch einmal mitkommen und mir das ansehen, es wäre ein schönes Haus, sogar mit einer Turnhalle. Ich habe meine Mutter dann bedrängelt, bis ich mit Kurt den weiten Weg in die Innenstadt machen durfte. Das Vereinshaus war ein großes Gebäude, als Eingang eine große Doppeltür mit einem gekachelten Flur, der nach hinten zur Turnhalle und zu einem großen Saal führte. Das Grundstück reichte bis zur Fehlandtstraße. Dies alles sollte ich aber erst später kennen lernen. Jetzt ging es links ein paar Stufen hinauf in einen Büroraum, durch diesen Raum gingen wir zum Treppenaufgang und stiegen in den 2. Stock und landeten dort in einem schönen, hellen Jugendraum. An den Tischen saßen Jungen in unserem Alter und spielten Brettspiele. Außerdem standen in dem Zimmer ein Bücherschrank und ein Klavier. Wir wurden von dem Leiter sehr herzlich begrüßt und konnten erst mal spielen. Später wurden die Spiele eingesammelt und der Leiter erzählte eine spannende Geschichte, von der wurde für später eine Fortsetzung angekündigt. Zum Schluss wurde eine Andacht gehalten. Das Thema war die Sturmstillung. Noch heute, nach fast 70 Jahren klingt mir das Lied im Ohr: „Mächtig tobt des Sturmes Brausen, um ein kleines Schiff, Jesus kommt, um uns zu erretten, er führt dich nach Haus.“ Ohne zu wissen, was diese Einführung für mein Leben bedeuten sollte, gingen wir beide, Kurt und ich, seit 1923 immer wieder in den Verein.
Eines Tages gab uns Hans Bock einen Zettel mit einer Einladung zu einem Jungenlager in Schäferhof bei Appen. Natürlich habe ich meine Eltern gelöchert, mir die Teilnahme zu erlauben. Endlich ging Mutter mit zum CVJM, um auch die finanzielle Seite zu klären, wir hatten es ja nicht so dicke. Dann kam der Tag der Abfahrt. Mit einer großen Gruppe ging ich mit meinem kleinen Gepäck zum Dammtorbahnhof. Von dort fuhren wir dann für 14 Tage mit dem Bummelzug nach Pinneberg. An der Kirche sammelten wir uns dort mit anderen Jungengruppen und dann ging der Marsch auf der Landstraße Richtung Appen-Schäferhof. Hier auf dem Gelände der Arbeiterkolonie hatte der CVJM schon seit Jahren sein Freizeitgelände. Einige Männer wie v. Stockhausen, Hermann Geißler und Sechinger hatten diesen Platz gepachtet. Im Wald war ein großes Zeltlager mit tollen Hauszelten. Die waren innen abgeteilt zu Schlafstätten, die mit Stroh gefüllt waren. Etwas höher gab es dann eine Ablage für das Gepäck. Leider war für uns Jüngere dort keinen Platz, vielleicht war das Zeltlager überbelegt, jedenfalls mussten wir in die geräumten Jungtierställe. Dort hatten wir unsere Strohsäcke und wir schliefen auch hier prima. Abends kam ein Leiter des Lagers, wir sangen ein Abendlied und er sprach das Nachtgebet.
Morgens wurden Waschschalen mit Pumpenwasser gefüllt und sich gewaschen, puh, war das Wasser kalt. Unser Strohlager wurde aufgeschüttelt, Ordnung musste sein. Dann ging es zur großen Buche. Da waren Tische und Bänke aufgestellt. Am Küchenhaus stand ein langer Tisch, an dem die Lagerleiter saßen, daneben auf Böcken die Töpfe mit Suppe. Meistens gab es Haferflockensuppe und eine große Semmel. Nach dem Tischgebet wurde das Essen ausgegeben.
Aus Kiel und Umgebung hatten wir Realschüler, die schon 14-16 Jahre alt waren. Die schliefen in den Zelten, mussten zeltweise die Nachtwache stellen. Der jeweils Verantwortliche einer Gruppe musste dann einen Wachbericht über die Nacht schreiben. Das wurde oft in Gedichtform geschrieben und nach einer bekannten Melodie gesungen. Hermann Geißler spielte dann dazu auf der Klampfe. Nach dem Essen saßen wir auf einer Wiese hinter dem Wald und hielten eine Bibelarbeit, die für uns sehr verständlich dargebracht wurde. Überhaupt hat uns das Lagerleben viel Spaß gemacht. Wenn es zu heiß war, ging es zum Karpfenteich, dort gab es ein altes Rettungsboot, auf dem wir herumtollten, meistens mehr unter Wasser als darüber.
Wir erlebten viele Überraschungen. Einmal wurden Spaten und Schaufeln ausgegeben und es ging zu einer nahegelegenen Sandkuhle. Da war ein sogenannter Burggraben, vor dem Gelände ein Sandturm und in der Mitte des Burggrabens ein Hügel. Dies Gelände hatte den Namen Treuburg. Draußen vor diesem Gelände gab es einen Gedenkstein mit dem Namen seines Gründers, von Stockhausen. Dieser war auch 1912, der Erbauer des Elbtunnels. Leider ist er schon gleich zu Beginn des ersten Weltkriegs gefallen.
Also unter Beratung unserer Leiter wurde die Treuburg wieder für einen großen Burgenkampf hergerichtet. Der Sandturm wurde mit Grassoden befestigt, die Burg und der Wall neu aufgeschüttet. Auf dem Hügel errichteten wir einen Turm mit Stangen und verkleideten ihn mit Zeltbahnen. Als alles fertig war, sah das Ganze recht imposant aus. Vorher wurde mit Speeren, die ich noch nicht kannte, geübt. Wir waren ca. 150 Jungen im Lager, diese wurden in zwei Abteilungen, mit je einem Heerführer, eingeteilt. Eine Abteilung bekam die Farbe blau, die andere rot. Als wir dann ins Gelände marschierten sangen die einen: „Rot ist die Liebe und blau kriegt die Hiebe.“ Die anderen sangen: „Blau ist die Treue und rot bekommt Bläue.“
Eines Tages wurden wir wieder in zwei Abteilungen, rot und blau eingeteilt. Jede Abteilung nahm am Haus aus der Kammer, wo viele Gerätschaften aufbewahrt wurden, die Speere entgegen, zwei für jeden. Diese Speere waren aus Bambusstangen und hatten an der Spitze ein dickes Polster, damit man sich nicht verletzen konnte. Dann gab es auch noch ein Stück Kreide. Bevor nun der Kampf gegen die andere Abteilung losging, wurde das dicke Ende des Speers mit Kreide eingerieben und dann der Speer gegen den Gegner geschleudert. Wer auf seiner Kleidung einen Kreidefleck hatte, musste aus dem Kampfgetümmel ausscheiden, was der Kämpfer ungern tat. Aber der Schiedsrichter holte ihn heraus und stellte ihn an die Seite. Da machten dann die Toten dann das meiste Geschrei, um ihre Mannschaft zum Sieg anzuspornen. Die Abteilung mit den meisten Überlebenden hatte gewonnen und durfte geschmückt mit Eichenlaub ins Lager einziehen. Dort gab es einen Jubelempfang und der Sieg wurde noch lange gefeiert.
Beim Essen sang Hermann Geißler oft Lieder zur Laute. Und dann im Chor der Ruf nach Post, die immer mit großem Hallo ausgeteilt wurde.
Ein Höhepunkt des Lagers war dann der Treuburgkampf. Schon früh am Tag rückten beiden Gruppen aus, die einen als Verteidiger, die anderen als Angreifer. War das eine Aufregung, denn die Angreifer durften sich nicht von den Verteidigern überraschen lassen. Diese waren auf der Hut und hatten im Gelände kleine Trupps im Hinterhalt. Bis wir endlich das Vorwerk genommen hatten, waren schon etliche auf der Strecke geblieben und waren nun Zuschauer. Es war ein hartes Ding bis wir die Burg geknackt hatten, da mussten noch viele ausscheiden. Selten geschah es, dass die Verteidiger gewannen. Nach dem Kampf zogen wir, staubbedeckt zum Karpfenteich, um uns zu säubern. Nach diesem Kampftag konnten wir dann bei schönstem Sonnenschein mit Kaffee und Kuchen Abschied feiern.
Für mich war dieses Schäferhofer Lager ein großes Erlebnis. Als wir nach den Ferien in der Klasse bei unserem Lehrer Prätorius, den wir sehr schätzten, unser Ferienerlebnisse zum besten gaben, staunten alle über meinen Bericht, so etwas hatte man noch nicht erlebt. Etwas ist mir von diesem letzten Tag besonders im Gedächtnis geblieben. Als wir vom Dammtorbahnhof zum Vereinshaus marschierten, sah ich auf dem Weg eine Obstkarre. Dort war der Preis für 1 Pfund Pflaumen mit 1000.- Mark verzeichnet. Ich konnte es nicht fassen, wie konnten nur die Preise so klettern. Im Vereinshaus nahmen wir dann Abschied von den Lagerleitern. Dies war eine der schönsten Erinnerung meiner Kindheit.
Danach kam wieder der Alltagstrott, Schule, Konfirmandenunterricht, leider war der Pastor oft krank.
Es kam nun die Frage, was nach der Schulzeit werden würde. Vater meinte, ich solle doch auch Klempner und Mechaniker werden, denn beim Großvater in der Bankstraße hätte ich mich beim Löten ganz gut angestellt. Damals war mein Vater schon bei einer Firma Schmidt in der Hansastraße und dort war eine Lehrstelle frei. Vater nahm mich mit zur Vorstellung und ich wurde angenommen. Jetzt wurde Arbeitszeug gekauft, ein Klempnerkittel und eine blaue, lange Hose. Stolz bin ich mit der Büx durch die Straßen marschiert. Wir trugen ja sonst bis zur Schulentlassung kurze Hosen.
Der Konfirmationstag stand fest, es sollte der 23. März 1924 sein. Vorher war in der Turnhalle der Schule die Entlassungsfeier. Die war sehr feierlich, der Chor sang: „Nun zu guter Letzt, geben wir dir jetzt...“ Ansprachen wurden gehalten, Mutter war ganz gerührt. Dann kam der 23. März. Ich zog den Konfirmandenanzug an und musste dazu einen Hut aufsetzen, der mir gar nicht passte. Ich weiß heute noch, wir gingen die Eppendorferlandstraße bis zur Bogenstraße. Die Pfützen waren gefroren. In der Kirche waren viele Eltern mit ihren Sprösslingen. Als wir zur Einsegnung vor dem Altar knieten, gab Pastor Bernitt mir den Spruch aus dem 73. Psalm:
„Dennoch bleibe ich stets an dir, denn du hältst mich mit deiner Hand.“ Christus ist Gottes Hand.
Nach der Feier in der Kirche wurde zu Haus mit Freunden tüchtig gefeiert. Mariechen und ich haben uns bald verkrümelt. Diese Zecherei und Skatspielen waren nichts für uns.
1924-1927, Lehrzeit
Bis zum 1. April hatte ich noch Ferien. Dann hieß es: Jetzt beginnt der Ernst des Lebens. Ich musste meine Lehrstelle bei Firma Schmidt antreten. Diese Episode dauerte aber nur 4 Wochen. Vater war mit dem Betrieb nicht einverstanden, denn es stellte sich heraus, der Meister hatte mehr Lehrlinge als Gesellen. So kam es, dass wir uns in der freien Zeit wieder auf Lehrstellensuche machten. Dabei kamen wir in die Eichenstraße. In einem Lampengeschäft entdeckte ich ein Schild: Lehrling gesucht! Vater und ich sind dann am Abend gleich dort aufgekreuzt und ich habe mich vorgestellt. Der Meister, Herr Lampe, ein etwas älterer, recht kleiner Herr, machte auf uns einen guten Eindruck. Er erzählte uns einiges über seinen Betrieb. Sein Sohn, der mit im Geschäft arbeitete, sei in der Elektrobranche tätig und so könnte ich neben dem Beruf des Klempner und Mechaniker auch Elektriker lernen. Wir waren mit dem Angebot einverstanden und so wurde der Lehrvertrag geschlossen. Am 1. Mai konnte ich die Lehrstelle antreten. Noch heute frage ich mich, warum musste es gerade diese Lehrstelle sein? Der Weg war doch ziemlich weit aber ich habe unendlich viel gelernt und bin dafür jetzt noch dankbar. Zunächst war ich wohl über die Lage der Werkstatt etwas erstaunt. Sie lag hinten auf dem Hof. Um dorthin zu gelangen, musste man durch den langen Wohnungskorridor. In der Werkstatt roch es immer nach Hühnerdreck, daran musste man sich erst gewöhnen. Die etwas hagere Frau Meisterin hielt im Garten Hühner. Der Meister hatte einen Altgesellen mit krausem Haar, den die Meisterin immer für einen Juden hielt, weil er ein so dunkles Aussehen hatte. Mein Lehrkollege war ein langer Kerl, der schon im dritten Lehrjahr war und mich als den Jüngsten anlernen musste. Dann war da noch ein junger Elektrikergeselle, der ganz umgänglich war. Eines Tages kam er nicht zur Arbeit. Seine entsetzte Mutter berichtete dem Meister, dass er sich das Leben genommen habe.
Hier bei Meister Lampe wurde ich ordentlich in das Handwerk eingewiesen. Zuerst hieß es am Sonnabend, die Werkstatt aufzuräumen. Aller Dreck von Werkbank und Fußboden musste ordentlich zusammen gefegt und in den Ascheimer befördert werden. Als ich am Montag in die Werkstatt kam, hatte der Meister den Inhalt des Ascheimers ausgeschüttet und alles Metall schön sortiert, hier Zink, dort Messing und Kupfer. Er zeigte auf die verschiedenen Häufchen und sagte nur: „Nicht noch einmal so mit dem Metall umgehen.“ Den Rüffel habe ich gut verdaut und in Zukunft kam das nicht mehr vor.
Überhaupt war das erste Lehrjahr sehr interessant. Ich wurde von dem Gesellen viel mit auf Kundschaft genommen. Dabei lernte ich Menschen und ihre Wohnungen kennen. Die Firma Lampe war mehr auf solche Reparaturarbeiten eingestellt als auf große Bauten. In der Gegend waren sehr viele Beamte zu Hause und oft stöhnte der Meister, dass sie sich so viel Zeit beim Bezahlen der Rechnungen ließen.
Mein erstes Lehrlingsgeld betrug 3.- Mark in der Woche, die Löhne waren damals niedrig. Später bekam ich als Geselle einen Stundenlohn von 0,82 RM. Der Meister musste zusätzlich noch Urlaubsmarken kleben. Die Klempnerinnung war die erste, die diese Errungenschaft vor allen anderen Handwerksbetrieben einführte. So konnte der Geselle nach einem Jahr mit diesen Urlaubsmarken, die dann eingelöst wurden, unbeschwert in Urlaub gehen. Für mich war es bis dahin noch ein weiter Weg.
Unser Meister war die Sparsamkeit in Person, ebenso wie seine Frau, die auch selbst die Ladenscheibe putzte. Ihr Wahlspruch hieß: „Arbeit regiert die Welt und der Knüppel den Hund.“ Der Meister muss früh nach Hamburg gekommen sein, durch Fleiß und Sparsamkeit war er zum Besitzer von zwei Wohnhäusern geworden. Eines war das, in dem er wohnte in der Eichenstr.27, das andere befand sich in der Fruchtallee 5. Seine Sparsamkeit kann man auch daran erkennen, dass er seine Lehrlinge mit der Schottschen Karre nach Barmbek schickte, um da bei den Gaswerken ein Fass Teer zu holen. Der Liter kostete 5 Pfg. In der Eichenstraße wieder angekommen, wurde das Fass auf Brettern durch die Wohnung getrudelt, zum Hof hinaus zu einer Grube. Dort wurde der Teer in Eimer oder Kannen abgefüllt.
Bei einer der ersten Teerarbeiten auf einem Dach in der Eichenstraße, machte ich eine böse Erfahrung. Wir mussten die Teereimer bis zur Dachluke im 5. Stock hinauftragen. Das Pappdach war sehr schräge. Der Meister, der Geselle und ich machten uns fertig zum Dachteeren mit dem Teerbesen. Der meister zeigte mir, wie der Teer ausgeschrubbt wird. Dabei waren ein paar Tropfen vom Besen auf das Dach gekleckert, ich rutschte darauf aus und stieß den vollen Teereimer um. Bei der großen Schrägung rutschte der Eimer immer schneller auf die Dachkante zu und keiner konnte ihn aufhalten. Am Ende des Daches kippte der Eimer über die Mansarde und sein Inhalt ergoss sich nach unten. Einige Fenster waren offen und es hing auch Wäsche draußen. Der Teer verschonte weder Fenster noch Wäsche. Der leere Eimer polterte in den Garten. Nun musste ich mit Petroleum die Fenster wieder reinigen. Eigenartig, mein Meister schalt mich überhaupt nicht aus, er war wohl froh, dass keiner zu Schaden gekommen war. Ich denke, alles andere hat die Versicherung bezahlt.
In der Werkstatt zeigte mir der Meister, wie die vielen Kochtöpfe, die zur Reparatur gebracht wurden, geflickt werden konnten. Es waren Pütt und Pann, manchmal auch ein großer Waschtopf. Die undichte Stelle oder das Loch wurden am Schleifstein gereinigt, ein entsprechend großer Blechflicken wurde dann aufgelötet. Zum Schluss wurde das Gefäß mit Wasser gefüllt, um zu prüfen ob es dicht war. Der Meister hatte mit dieser Arbeit, die ja auch von Lehrlingen gemacht werden konnte, einen guten Nebenverdienst. Es gab viel zu reparieren, Die Badewannen und die Waschbecken waren ja damals aus Zink, dazu kamen die kupfernen Badeöfen, bei denen der Boden oder das Flammrohr durch unsachgemäßes Heizen oft zerfressen waren.
Ich durfte viel lernen. Wenn ein neuer Badeofen gesetzt wurde, musste auch getöpfert werden. Manchmal musste der Steinfußboden oder eine aufgeschlagene Wand wieder vermauert werden.
Mit dem jungen Meister ging es auf Montage, da wurde dann eine Wohnung mit elektrischen Brennstellen versehen. Die meisten Wohnungen in dieser Gegend hatten noch Gas zum Beleuchten. Viele Leute wollten vom Gas loskommen. Es war gefährlich und die Glühstrümpfe mussten sehr oft erneuert werden. Dazu schickte mich der Meister oft in die Häuser, nachdem der Meister mir das Aufsetzen der Glühstrümpfe beigebracht hatte. Man musste diese Dinger vorsichtig aufsetzen und dann abbrennen, wehe, man berührte den Strumpf, dann zerfiel er.
Ich muss schon sagen, mein Beruf machte mir viel Spaß, wenn ich auch abends müde ins Bett fiel. Mein Vater fragte oft, was den ganzen Tag so los war. Er wollte ja, dass ich auch richtig etwas lerne.
Schwer war es, wenn in einer Wohnung die Zinkbadewanne durch eine emaillierte Gusswanne ersetzt wurde. Einmal mussten wir mit vier Mann so ein Ding mehrere Etagen raufschleppen. In der Badestube musste der Bleiboden, auf dem die neue Wanne stehen sollte, untersucht und ausgebessert werden. Oft musste auch der Dreck von mehreren Jahren beseitigt werden, denn die Hausfrau konnte vorher nie hinter und unter die Wanne kommen.
Mit dem jungen Meister war ich gern unterwegs, um elektrische Leitungen zu legen. Zuerst war ich gespannt, wie wohl der Draht in die Mitte der Zimmerdecke kommt. Dort hing ja vorher die Gaslampe, die wurde entfernt und die Gasleitung mit einem Kapphaken verschlossen. Damals hatten wir keine elektrische Bohrmaschine, wir machten die Löcher mit einem Rohrbohrer, der beim Lochschlagen immer gedreht werden musste, sonst könnte auf der anderen Seite ein Stein herausfliegen, dies geschah auch manchmal.
Eines musste man dem jungen Meister lassen, er sah sehr auf Sauberkeit. Beim Schlagen oder Bohren wurde stets eine Schaufel oder ein Karton untergehalten. Wenn etwas vorbei fiel, wurde es sofort aufgefegt, es sollte so wenig Schmutz wie möglich geben. Die Hausfrau war dann auch immer froh darüber. Nachmittags gab es dann oft eine Tasse Kaffee mit einem Keks.
Nun aber kurz die Erklärung, wie der Draht in die Mitte der Decke kam, ohne dass er zu sehen war. Meistens hatten diese Altbauwohnungen in den Stubendecken eine Gipskehle. Vom Korridor wurde ein Loch geschlagen, um in den Hohlraum zu gelangen. Die Gipskehle wurde aufgeschnitten und in der Mitte der Decke ein Loch gebohrt, um in den Blindboden der Decke zu gelangen. Mit einem dünnen Draht wurde nun versucht, von der Mitte bis zu der Gipskehle zu gelangen und dort wurde der Draht mit einem Gegendraht herausgezogen. Daran wurde nun der Leitungsdraht gebunden und zur Mitte gezogen. Nun war die Leitung in der Decke und viele staunten, wie das möglich war. Ich selber wurde zum Gipsen angelernt und konnte später die ausgesägten Gipsstücke so gut wieder einsetzen, dass man die Stelle nicht mehr erkennen konnte.
Lange Zeit war ich begeisteter Strippenzieher, wie man den Elektriker nannte. Mein Vater hat dann dem Meister klargemacht, der Junge soll doch den Klempner und Mechanikerberuf erlernen. Aber noch war ich von dem Elektrikerberuf wie besessen. Es gab ja so viele Neuigkeiten. Die Kronleuchter, die mit Gas gespeist wurden, mussten auf elektrisch umgearbeitet werden. Dabei mussten Drähte eingezogen und Fassungen montiert werden. Einmal passierte es mir, dass ein Glasarm der Krone entzwei ging. Da war ich aber in Druck. Der Meister sagte: „Sieh man zu, wie du das wieder in Ordnung bringst.“ So bin ich bis zur Feldbrunnenstraße gelaufen. Dort fand ich einen Glasschleifer, der mir den Schaden in Ordnung brachte. Ich hatte doch einen Bammel gehabt, ich dachte, ich müsste die Glaskrone ersetzen.
Wenn eine Wohnung fertig installiert war, kam der spannende Augenblick, wenn der Beamte von den HEW den Zähler anbrachte und die Lampen angingen. Die Bewohner solcher Wohnung freuten sich riesig über das neue Licht. Auch ich hatte meinen Spaß und dazu das Trinkgeld. Oft war ich um 21 Uhr noch nicht im Haus und mein Vater erkundigte sich beim Meister, was denn los sei. Der Meister sagte dann, der Junge ist nicht von der Arbeit wegzubringen.
So kam Weihnachten 1924 heran. Es war ein trauriges Fest, denn Vater lag mit einer schweren Lungenentzündung im Bett. Mutter machte sich große Sorgen, denn Vater war aus dem Krieg schon nicht als Gesunder heimgekehrt. Er hatte ein Kehlkopfleiden. Natürlich kam der Arzt mehrere Male. Mutter kochte dann eine kräftige Hühnerbrühe und langsam ging es besser. Wir bekamen dann doch noch unsere Geschenke, Marie ihre Puppe und ich mein Buch: „Quer durch die Wüste Gobi“ von Sven Hedin. Später gab es noch ein Buch: „Mit Stanley durch Afrika“. Ich hatte solche Lektüre sehr gern, die Schilderungen von Land und Leuten fand ich spannend.
Zum Jahresende 1924 musste in der Fachschule ein Probestück abgeliefert werden. Bei mir war es ein Wasserkastenschwimmer aus Zink, der sauber gelötet sein musste. Für gute Arbeit gab es eine besondere Zensur und der Meister bekam ein Lob für gute Lehrlingsbetreuung.
Das Jahr 1925 war für mich besonders inhaltsreich. Meine Zeugnisse waren ganz gut geraten und die Schulleitung meinte, der Lehrling muss in eine andere Klasse, wo mehr gefordert wird. Das geschah dann auch. Ganz leicht war es in dieser Klasse zunächst nicht. Es waren da etliche Meistersöhne, die eine andere Schulbildung genossen hatten. Auch war ihre Art oft recht überheblich. Zum Glück fand ich später einen Freund, der auch im Wesen zu mir passte.
In unserem Betrieb in der Eichenstraße war viel los. Die heißen Sommertage wurden zum Dachteeren genutzt. Es gab in der Gegend viele Pappdächer, die nach Jahren immer wieder geteert werden mussten. Wenn das nicht rechtzeitig geschehen war, musste das ganze Dach neu mit Dachpappe gedeckt werden. Dazu wurde eine Klebemasse gebraucht, die auf einem Ofen gekocht wurde .Dabei musste man höllisch aufpassen, damit die Masse nicht überkochte.
So langsam gewöhnte ich mich an die Höhenluft, denn man musste schon schwindelfrei sein. Die Dächer hatten nach hinten ausgebaute Mansarden, diese Schrägen mussten auch geteert werden. Nachdem nun feststand, dass ich schwindelfrei bin, wurde ich ans Ende der Mansarde geschickt, um diese zu teeren. Dabei stand man in der Dachrinne und wenn die voll Klebemasse war, blieb man mit dem Schuh darin stecken und kam nur mit Mühe wieder frei. Eigentlich gab es eine Vorschrift, dass man diese Arbeit nur angebunden machen sollte, aber darunter litt die Beweglichkeit. Manchmal war es auf dem Dach so heiß, dass wir öfter Pausen einlegen mussten. Ich wurde dann zum Milchhändler geschickt, um mehrere Liter Buttermilch zu holen.
Oft hatte man Sehnsucht nach Urlaub, aber während der guten und heißen Tage ging das nicht, nur die Fachschule hatte Sommerpause. Später bekam ich im Herbst mal 3 Tage frei und war darüber schon ganz froh.
Eines Tages, ich hatte schon Feierabend, bekamen wir Besuch . Durch meine viele Arbeit beim Lehrmeister, hatte ich den CVJM ganz vergessen. Nun war der Leiter, Hans Bock, persönlich erschienen, um mich zur Jugendabteilung, die immer Sonntagabend stattfand, einzuladen. Ich war ganz gerührt, dass er den weiten Weg meinetwillen gemacht hatte, um den vergesslichen Jungen zurückzuholen. Von meinem ehemaligen Freund, Kurt Beisinger, war nichts mehr zu sehen. Der muss seine eigenen Wege gegangen sein. Später hörte ich, er sei bei der Fliegerei gelandet und ist im Krieg mit dem Flugzeug abgestürzt. Nun, am Sonntag ging ich dann den Weg zu den Colonaden. Im Heim traf ich eine muntere Schar von jungen Leuten. Es wurde gespielt, erzählt und von Wanderungen berichtet, die schon stattgefunden hatten oder noch geplant wurden. Dann setzten wir uns rund ums Klavier und Hermann Schmidt begleitete die Fahrtenlieder, die wir aus voller Kehle sangen. Zum Schluss wurde uns ausgelegt und mit in die Woche gegeben. Mir gefielen diese Sonntagsstunden sehr und ich löste mich langsam von der Klicke aus der Knauerstraße.
Bald fand ich Freunde, die in der Frickestraße in Eppendorf wohnten. Es waren drei Brüder, der Hermann wurde mein besonderer Freund. Wir holten uns am Sonntag gegenseitig ab und marschierten zum CVJM. Eines Sonntags wurde angekündigt, wir treffen uns am nächsten Sonnabend mit Übernachtungsgepäck, es geht zur Heideburg, einem Heim des Nordbundes. Es sollte eine Nachtwanderung gemacht werden. Am Sonnabend ging es dann mit der Bahn bis Harburg und dann mit der Straßenbahn bis zur „Goldenen Wiege“. Das war die Endstation an den Schwarzen Bergen. Es war schon dunkel geworden, die Gruppe musste dicht beieinander bleiben, damit keiner verloren ging. Hans Bock mit seinen Helfern führte uns plötzlich vom Weg ab, quer durchs Gelände. Wir mussten eine ausgewaschene Sandrinne durchklettern. Auf Händen und Füßen ging es durch dies Hindernis. Nach einer guten Stunde waren wir am Eingang zur Heideburg angelangt. Jetzt musste noch ein Berg genommen werden, denn die Heideburg lag hoch oben. Der Hausvater gab uns den Schlüssel zur Holzbaracke, die seitwärts im Wald lag. Es war ein großer Raum mit Doppelstockbetten. Die Bettsäcke waren mit Stroh gefüllt, zum zudecken gab es zwei Wolldecken. Nach der anstrengenden Wanderung schliefen wir bald ein. Morgens ging es früh raus, Frühsport im Wald und dann im Waschraum mit Kaltem Wasser frisch gemacht. Im Haupthaus wurde dann gefrühstückt. Beim Hausvater konnte man für 15 Pfennige einen Becher Heidetrank erstehen.
Der Tag hatte ein volles Programm, Andacht, Waldspiele usw. Nachmittags ging es durch den Wald wieder zur Goldenen Wiege und von dort nach Hause. Zu Hause konnte ich dann meine Erlebnisse spannend erzählen. Es war ja meine erste Nachtwanderung. In der Firma ging der Betrieb abwechslungsreich weiter.
Die Heideburg sollte in meinem Leben noch eine große Rolle spielen. Der CVJM ließ dort verschiedene Tagungen abhalten. Da war einmal eine mit dem Missionsdirektor Freytag. Er machte uns schon damals klar, dass es einmal heißen wird, Afrika den Afrikanern, Asien den Asiaten.
Eines Tages lud mich unser Jugendleiter Hans Bock zur Bibelstunde ein, die jeden Dienstagabend stattfand. Wie dort Gottes Wort erklärt wurde, so hatte ich es noch nicht erlebt. Nach einigen Wochen meinte Hans Bock zu mir, komm doch am Sonnabendabend zu einem Gebetskreis. In dieser Gemeinschaft erlebte ich dann, ganz ungewollt und doch sehr bewusst, wie mir das Wort Gottes bis in die Seele drang. Glauben heißt ja, im Gewissen überwunden werden, durch Sein Wort, sodass man nicht anders konnte, als den eigenen Willen in Seinen Willen zu legen, im Vertrauen zum Gehorsam der Treue. Das Wort aus dem Psalm 42, V.2, wo es heißt: „Meine Seele dürstet nach Gott“, wurde mir wichtig und sollte erst später zum Durchbruch kommen.
Es war an einem Sonntag, wir waren schon nachmittags im Vereinslokal, da spielte Hermann Schmidt am Klavier das Lied: „Welch Glück ist es, erlöst zu sein“, als sich in mir plötzlich etwas frei machte und ich mit großer inneren Freude in das Lied einstimmte. Später, es war im September 1926, kaufte ich mir eine Taschenbibel und las darin. Mir wurde mit einem Mal der Römerbrief, der ja oft schwer zu verstehen ist, verständlich und das was Paulus schrie konnte ich gut nachvollziehen. Von jetzt an ging es mit dem Verständnis langsam aber stetig voran. Wichtig war aber jetzt, in der Gemeinschaft zu bleiben, die sich um Sein Wort versammelte.
Zu Hause spürte man wohl auch etwas von meiner inneren Umstellung . Vater war neugierig und inspizierte den Inhalt meiner Schublade, in der die Bibel und Schriften vom CVJM lagen. Zu Mutter sagte er nur: „Lass den Jungen man.“ Vaters Wahlspruch lautete : „Tue recht und scheue niemand.“ Nur hat er sich nie gefragt, wie geht das eigentlich. Denn wie kann man das Recht Gottes tun, wenn man nicht vorher von seinem Unrecht vor Gott erlöst ist. Das Recht, das vor Gott gilt, kann einem nur klar werden, wenn man die Bindung an erfahren hat. Alles andere ist das sogenannte Recht, das Menschen aufstellen.
In der Gemeinschaft der Gleichgesinnten im CVJM herrschte ein Miteinander, wie ich es noch nie erlebt hatte. Im Glauben ging es langsam voran, es gab auch Schwierigkeiten, aber das Lesen in der Bibel war schon eine Hilfe. Es gab eine Anleitung zur täglichen Morgenwache, für jeden Tag einen bestimmten Text.
Oft machten wir Fahrten durch die Nordheide, nachts schliefen wir beim Bauern im Stroh. In einer Herberge in Schätzendorf erlebten wir beim Singen andere Gruppen. Dort hörte ich zum ersten Mal das Lied: „Wilde Gesellen vom Sturmwind umweht...“ mit dem Refrain: „Uns geht die Sonne nicht unter.“ Eines Tages sagte mir unser Jugendleiter, auf der nächsten Fahrt solle ich die Andacht halten. So etwas hatte ich ja schon oft gehört, doch wenn man selbst vor der Gruppe steht, das ist schon etwas eigenartig.
Der Sonntag kam und es ging über die Holmseppenser Mühle, weiter zum Büsenbachtal. Unterwegs wurde Halt gemacht und nun konnte ich meine vorbereitete Andacht vortragen. Es war bestimmt mit Zittern und Zagen, aber es ging ganz leidlich. Das Wort, das ich ausgesucht hatte, war aus dem Johannesevangelium, Jesus Christus spricht: „Ich lebe und ihr sollt auch leben.“ Das habe ich bis heute nicht vergessen.
Im Büsenbachtal machten wir Rast und tobten herum. Da kam einer auf den Gedanken, den Wimpel von dem Ger, das ist die Stange, an der er befestigt ist, abzulösen. Wir teilten uns in zwei Gruppen und dann wurde das Spiel „Treiben“ durchgeführt. Der Ger wurde geschleudert und von da, wo er die Erde berührte, musste die andere Gruppe den Ger schleudern. Zu Anfang ging das alles prima, bis einer der Jungen versuchte, den Ger aufzufangen und so zugriff, dass er ihm in den Handballen fuhr. Jetzt mussten wir mit ihm auf dem schnellsten Wege zum Arzt in der nächsten Ortschaft. Die Fahrt war durch diesen Unfall schnell zu Ende gekommen. Uns aber war klar geworden, das war eine Riesendummheit.
Bei unseren vielen Wanderfahrten waren wir immer eine große Schar und wenn wir in der Eisenbahn unsere Lieder sangen, gab es bei den Mitreisenden großes Staunen und viel Beifall.
Bei all dem Erleben durfte die Ausbildung nicht zu kurz kommen. Oft war es am Montagmorgen nicht so leicht, richtig in Schwung zu kommen. Die Glieder waren von den Wanderungen oft noch müde.
Unser Altgeselle hatte in Langenhorn ein Siedlungshaus, an dem er noch viel zu arbeiten hatte. Eines Tages bat er mich, ob ich ihm beim Anbringen der Dachrinne helfen würde. Ich sagte zu und auf dem Foto sieht man den Altgesellen Rautenberg und den Wietholz auf dem Gerüst stehen.
Die Weihnachtszeit kam heran, es gab viel zu tun. An der Ecke Eichenstraße gab es eine Apotheke. In dem Haus sollten wir beim Ausbau des Dachgeschosses zur Wohnung mitarbeiten. Das Schieferdach musste umgedeckt werden. Hier lernte ich, wie Schiefer eingebunden wird. Auch die Sanitäranlagen wurden neu eingebaut.
Dann kam von der Schule die Aufgabe, ein Prüfungsstück musste angefertigt werden und bis zur Weihnachtsausstellung der Innung fertig sein.
Der Meister meinte, ich solle eine Kaffeedose aus Weißblech herstellen. Diese Arbeit war gar nicht so einfach. Das Blech durfte keine Falten haben und die Lötstellen mussten ganz glatt und sauber sein. Es durfte an den Nähten nicht geschabt werden. Die Dose wurde termingerecht fertig und der Meister meinte, sie sei gut geworden und ich könnte sie abgeben. Wie immer, fand die Ausstellung der Innung, mit allen Arbeiten der Lehrlinge und Gesellen, statt. Mit meinem Vater besuchte ich die Ausstellung. Es wurden interessante Stücke aus den verschiedenen Lehrjahren gezeigt. Für uns war auch wichtig, zu entscheiden, welcher Art mein Gesellenstück werden sollte. Wir suchten natürlich auch meine jetzige Arbeit. Plötzlich fanden wir meine Kaffeedose, herausragend auf der Fensterbank. Daran steckte ein blauer Zettel mit dem Vermerk „Prämiert“ und die Zeugnisnote „Sehr gut“. Als Preis bekam ich einen Fachkalender. Natürlich war mein Vater stolz auf seinen Sprössling. Das spätere Weihnachtsessen zu Hause mundete dann besonders gut und Mutter bekam für ihre Kochkunst auch ein Lob.
Am Sonntag vor unserer Jugendstunde gingen wir mit einer größeren Gruppe durch die Straßen, um andere einzuladen, auch zum CVJM zu kommen. Zu diesem Dienst wurden wir eingeteilt, natürlich war das freiwillig. Auf einer Tafel am Eingang unseres Heims stand ein Wort Lord Williams, dem Begründer des CVJM: „Gerettet sein, gibt Rettersinn“. Dieser Wort Lord Williams wurde in England später geadelt. Zuerst hatte es mit einer kleinen Gruppe in einer Gebetsgemeinschaft begonnen. Auch diese jungen Leute sind auf die Straße gegangen und haben eingeladen. Heute ist der CVJM eine weltweite Organisation mit vielen Vereinshäusern.
Der Verein will keine Konkurrenz gegen die Kirche sein, doch bei der Amtskirche klaffte eine Lücke, die durch den CVJM mitgefüllt wurde. Bevor wir jeweils auf die Straße gingen, wurde unser Handeln im Gebet unter die Hand des Herrn gestellt. Zum ersten Mal, mit den Einladungszetteln in der Hand, auf die Straße zu gehen, war schon ein Wagnis. Es war das Jahr 1927, (Dies war auch das Jahr, in dem mein Großvater aus der Bankstraße starb, den ich sehr gern gehabt habe).
Die Erwerbslosigkeit war schon groß. Viele Gruppen der verschiedensten Parteien trieben ihr Unwesen. Ohne Straßenschlachten ging es schon nicht mehr ab. Wir sprachen trotzdem junge Männer an und etliche folgten unserer Einladung. Im Verein waren verschiedene Berufsgruppen, die ihre Veranstaltungen hatten, so konnte sich jeder aussuchen, wohin er gehen wollte. Immer aber wurde das Evangelium, die frohe Botschaft verkündigt, damit der Mensch heraus kommt aus seinem Todeskreis zu einem Leben mit Jesus Christus. Es tummelten sich ja draußen viele Weltanschauungsgruppen. Da waren nicht nur die Kommunisten, auch die SPD, die völkischen Gruppen, unter anderen die von Mathilde Ludendorff (am heiligen Quell der Germanen), eine gefährliche Gruppe. Auch die Nazis versuchten, durch diese Gruppe, politischen Boden zu gewinnen.
Bei meiner Arbeit in der Fruchtallee, im Zinshaus meines Meisters, wohnte eine Familie, die dieser Gruppe anhing. Ich versuchte mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Was da gegen die Bibel und Gottes Wort hervorgebracht wurde, war unglaublich. Es war überhaupt nicht an sie heran zu kommen. Man spürte, diese Leute hatten so etwas, wie ein Brett vor dem Kopf.
Der Stadtmissionar Dr. Witte rief zu einer Versammlung bei Sagebiel auf, um mit den Ludendorffern zu diskutieren. Der Saal in der Nähe des Gänsemarkts war brechend voll. Auch ich saß auf der Empore und schaute auf die große Versammlung. Pastor Dr. Witte versuchte, ihre Angriffe auf die Bibel zu widerlegen, aber immer wieder kamen Redner von der Gegenseite und brachten Texte aus der Bibel, ganz aus dem Zusammenhang gerissen. Man konnte mit Engelszungen reden, es half nichts, hier war eine Sperre, die man nicht beiseite bringen konnte.
Eigenartig aber war, ich war oft froh, konnte abends in die Stille des Borsteler Waldes flüchten und in meiner Bibel lesen, um die Orientierung nicht zu verlieren.
Später habe ich erkannt, wie wichtig es für das innere Wachsen des Glaubens war, denn was war noch alles in der Zukunft verborgen. Nur einer, der alles in Händen hält, kann uns bewahren. So etwas von Bewahrung erlebte ich mehrere Male.
Im Betrieb hatten wir ein Fahrrad, das für weite Entfernungen zur Kundschaft gebraucht wurde. Eines Tages bekam ich den Auftrag, etwas aus der Innenstadt zu besorgen. So fuhr ich mit dem Rad durch die Bankstraße, geriet mit dem Vorderrad in die Straßenbahnschiene und schlug hart aufs Pflaster. Da die Bankstraße eine Durchfahrtstraße zum Gemüsemarkt war, gab es hier sehr lebhaften Verkehr. Die Leute blieben stehen, als ich das verbeulte Rad aus den Schienen zog. In dem Augenblick kam mein Vater, der damals bei seinem Vater in der Bankstraße arbeitete, die Straße entlang und sah seinen Sohn inmitten einer Menschenansammlung stehen. Zum Glück hatte ich keine nennenswerten Verletzungen, und so war auch mein Vater froh und gab mir einen Wink, schnellstens mit dem ramponierten Rad zu verschwinden. Mein Meister sagte auch nicht viel, auch er war froh, dass es noch so gut abgegangen war. Das Rad wurde dann in unserer Werkstatt repariert.
Mit Fahrrädern hatte ich überhaupt so einiges am Hut. Als ich genug Taschengeld gespart hatte, kaufte ich ein gebrauchtes Fahrrad. Daran hatte ich nicht viel Freude, denn es gab dauernd Reparaturen. Einmal schickte der Meister den Gesellen und mich mit einer Karre voll Zement, wieder zu seinem Haus in der Fruchtallee. Mein Altgeselle konnte auch Wände verputzen und ich lernte es von ihm. Wir hatten dort aber auch einiges im Garten zu tun, und dabei entdeckte ich unter der Veranda, ein altes, rostiges Opelrad. Ich fragte den Eigentümer, ob ich es haben dürfte. Nach einer zustimmenden Antwort zog ich glücklich damit nach Hause. Nach einiger Zeit hatte ich es auf Vordermann gebracht. Jetzt konnte ich zur Arbeit radeln, das war doch eine große Erleichterung.
An einem Sonntagmittag kam ich auf den Gedanken, mit dem Rad nach Kiel zu fahren, um dort das Meer zu sehen. Spät kam ich da an, musste aber gleich den Heimweg wieder antreten, damit ich wenigstens bis Mitternacht wieder zu Hause sein würde. Als ich Quickborn erreicht hatte, ging nichts mehr, mein Hintern hatte Hornhaut, nun mussten mal die Füße dran glauben. Kaputt und zerschunden erreichte ich mein Ziel und bin halb tot ins Bett gefallen. Meine Eltern haben nur den Kopf geschüttelt: Was ist das nur für ein verrückter Jung. Der nächste Arbeitstag ist mir recht schwer gefallen, vor Müdigkeit wäre ich fast von der Trittleiter gefallen.
Wenn wir mal einen Auftrag für das Cafe Lehfeld am Schulweg bekamen, freuten wir uns, denn vielleicht fiel ja mal ein Stück Kuchen für uns ab. Groß war die Enttäuschung, als der Chef in der Backstube uns nicht von der Seite wich, so konnte uns kein Geselle etwas zustecken. Einmal wurde uns diese Aufpasserei zu dumm. Als es Mittag wurde, gab mir der Geselle etwas Geld, um in einer naheliegenden Bäckerei einige Brötchen zu holen. Die verzehrten wir nun vor den Augen des alten Geizkragens.
Wie ganz anders war der Chef in einer Schokoladenfabrik. Nach getaner Arbeit, bekam man ein Paket mit Bruchschokolade. Zu dieser Arbeitsstelle bin ich besonders gern gegangen, denn Süßigkeiten hatten es mir schon immer angetan. Wenn es das Taschengeld erlaubte, habe ich mir später sonnabends eine Tafel Schokolade gegönnt.
Nun muss mal wieder die Rede vom CVJM sein. Unsere Eppendorfer Gruppe war sehr stark geworden. So kam der Plan auf, doch in Eppendorf eine Zweigabteilung zu gründen. Bis der Plan aber ausgereift war und sich ein Leiter fand, ging noch viel Wasser die Elbe runter. Für ein Ferienlager in Sarow am Müggelsee wurde geworben und bald war eine Gruppe zusammen, die am Lager teilnehmen wollte. Es war eine Bibelfreizeit mit vielen anderen jungen Leuten. Nicht viel ist davon bei mir haften geblieben, nur ein neues Erweckungslied, das damals aufkam. Später wurde mit der Gruppe Berlin besucht. Wir fuhren mit einem Doppeldeckerbus und hatten von oben eine herrliche Aussicht. Natürlich wurde das CVJM-Haus in der Wilhelmstraße besucht, in dem der Rittmeister Rothkirch so segensreich gewirkt hatte.
Nach den kurzen Ferientagen gab es im Beruf allerlei zu tun. Jetzt war ich im 3. Lehrjahr und der Meister konnte mich schon allein zur Kundschaft schicken. Ein neuer Lehrling war eingetreten. Das war ein Windbeutel, der seine Ausbildung nicht ernst nahm, was sich dann nach 4 Jahren zeigte. Wenn ich ihm eine Arbeit in die Hand gab, war die so mies ausgeführt, dass man es noch einmal machen musste. Ich sagte ihm, wenn er sich keine Mühe gebe, könne ich ihn nicht zur Kundschaft mitnehmen.
In der Schule wurde tüchtig auf die Gesellenprüfung hin gearbeitet. Unser Lehrer Meyer hatte immer einen besonderen Ausspruch: „, wir müssen die Prüfungshürde nehmen.“
Für die Prüfung gab es bestimmte Verordnungen. In der Schule wurde die Prüfung über vier Stunden abgehalten. In der Innungswerkstatt mussten dann, unter Aufsicht eines Prüfungslehrers, aus Abflussrohr und Wasserleitung besondere Sanitärteile hergestellt werden. Die Lötstellen auf dem Bleimaterial mussten besonders sauber gelötet sein. Und dann kam das Gesellenstück, das auch ansprechend sein sollte. Ich entschied mich für einen Dokumentenkasten aus Weißblech. Diese Arbeit durfte in der Werkstatt meines Meisters hergestellt werden. Manchmal werkte ich bis spät in den Abend an diesem Stück. Der Kasten musste ohne Fehler und Kratzer erstehen, damit er vor der Prüfungskommission bestehen konnte.
In der Innungswerkstatt wurden meine Sanitärteile aus Blei, ein Abflussbogen mit T-Stück und eine Wasserleitungsabzweigung, gut zensiert.
Dann kam der theoretische Teil der Prüfung. Bevor die Hefte mit den Prüfungsaufgaben verteilt wurden, sagte ein Lehrer: „Jetzt wird sich die Spreu vom Weizen scheiden.“ Nach der Prüfung zeigte sich, dass gerade seine Favoriten, die Meistersöhne, schlecht abgeschnitten hatten. In dieser Klasse war überhaupt nur ein Schüler mit dem ich guten Kontakt hatte und der war auch der christlichen Botschaft nicht ablehnend gegenüber.
Einmal hatten wir eine Auseinandersetzung mit einem anderen Schüler. Wir gingen zusammen durch die Michaelisstraße. Er wollte nicht einsehen, dass die Welt vergänglich ist und der Mensch mehr braucht, als das, was er sieht. Ich weiß noch heute, dass von mir der Einwand kam: „Und wenn dies alles einmal in Schutt und Asche fällt?“ Ich ahnte nicht, dass es 1943 die Michaelisstraße nicht mehr geben würde, die Bomben sorgten dafür.
Als die Prüfungen abgeschlossen waren und das Gesellenstück bei der Innung hinterlegt war, hörten wir, die Prüfung sei bestanden. Die Auslieferung der Gesellenstücke würde noch vor dem 1. April geschehen. Doch für mich kam erst der 15. März. Vater war krank, er wollte aber doch zur Arbeit gehen. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er aus dem Bett kam und in der Küche versuchte, seine Arbeitshose anzuziehen, was ihm aber nicht gelang. Mutter machte sich große Sorgen und schickte mich zu unserem Hausarzt Dr. Meyer, der seine Praxis in der Eppendorferlandstraße hatte, er solle schnell kommen.
Von dort ging ich weiter zur Arbeit. Ich bekam den Auftrag, in der Bornstraße das Treppenlicht nachzusehen. Wie ich feststellte, hatte es einen Kurzschluss durch eine Glühbirne gegeben. In der 2. Etage ließ ich mir von einem Nachbarn eine Trittleiter geben und schraubte die Glaskuppel ab. Ich stellte sie fest auf die oberste Sprosse der Leiter und schraubte eine neue Glühbirne ein. Ohne die Glaskuppel berührt zu haben, viel sie runter und zersprang. Meine Uhr zeigte Punkt 11 Uhr. Ich fegte die Scherben zusammen und fuhr wieder in die Werkstatt.
Dort kam mir die Meisterin entgegen und sagte, es wäre angerufen worden, ich solle schnell nach Hause kommen. Im Haus fand ich Mutter und Schwester in einem aufgelösten Zustand. Vater war tot. Er hatte plötzlich einen Schlaganfall bekommen und hatte sich davon nicht erholt. Als Mutter mir erzählte, dass Vater um 11 Uhr eingeschlafen war, dachte ich an die heruntergefallene Glaskuppel. Auch meine Schwester erlebte, dass unsere Stubenuhr um 11 Uhr stehen geblieben war. Als es Vater am Morgen so schlecht ging, konnte ich ihm noch sagen, dass ich die Gesellenprüfung bestanden habe. Ob er das noch aufgenommen hat, weiß ich nicht.
Der Tod von Vater war für unsere Familie besonders tragisch, denn am drauffolgendem Sonntag war die Konfirmation meiner Schwester in der Andreaskirche. Es wurde eine bedrückende Angelegenheit. Wir waren erleichtert, als am 19.3. die Beerdigung überstanden war. Es war eine große Trauergemeinde in der Kapelle 1 auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Viele Freunde und Arbeitskollegen waren gekommen. Vater hatte ja bei der Firma Oldenburg und Hengstler eine Vorarbeiterstellung innegehabt.
Aber alles, was Mutter an Zuspruch entgegen gebracht wurde, konnte die tiefe Wunde nicht heilen. Sie litt unendlich unter dem Verlust ihres Mannes. Es kam zu einer Gemütskrankheit, die sich noch zu einem Verhängnis für sie entwickeln sollte.
1927-1937 - Gesellenzeit
Von meinen ehemaligen Klassenkameraden hörte ich, die Feier zur Ausschreibung zum Gesellen sei schon gewesen und ich war nicht dabei. Durch meinen Meister hörte ich dann, weil meine Lehrzeit erst am 1. Mai begonnen hatte, bekäme ich den Gesellenbrief auch erst am 1.5. Mein Meister war aber so anständig, dass er mir schon ab April den Gesellenlohn auszahlte. Die Löhne waren damals niedrig. Als Junggeselle hatte ich einen Stundenlohn von 87 Pfennigen. Das Schlimmste war, dass die Wirtschaft darniederlag. Man musste auf Kundschaft warten. Die Zahl der Erwerbslosen wurde immer größer.
Im Betrieb hatten wir ein Auftragsbuch, in das wir schauten, den Auftrag erledigten und unseren Namen dann dahinter setzten. Eines Tages stand kein Auftrag mehr in dem Buch. Weil ich der jüngste Geselle war und den Altgesellen nicht verdrängen wollte, bat ich den Meister um meine Entlassung. Über die Antwort vom Meister und seiner Frau war ich sehr erstaunt. Sie sagten:
"Nein Hugo, dich entlassen wir nicht, wir haben hinten im Büro noch Aufträge, von denen die anderen nichts wissen." Wenn ich dann oft in der Werkstatt wartete, bis ein Auftrag kam, so war mein Wochenlohn nicht groß, aber wir konnten davon leben. Mutter hat versucht, eine Rente zu bekommen. Weil Vater schon mit 41 Jahren gestorben war, hatte er nicht genügend Beiträge für die Rentenversicherung gezahlt und so wurde ihr Antrag abgelehnt. Später bekam sie im Eppendorfer Krankenhaus eine Arbeitsstelle in der Küche. Wegen ihrer angeschlagenen Gesundheit konnte sie dies aber nicht lange durchhalten.
Meine Schwester versuchte, eine Lehrstelle zu bekommen, was aber wegen der schlechten Wirtschaftslage nicht gelang.
Mein Leben war bestimmt vom CVJM. Es wurde nun eine Zweigabteilung in Eppendorf gegründet. Georg Andresen, ein Kaufmann, war bereit, die Leitung zu übernehmen. Wir nahmen Verbindung zum Volksheim Tarpenbekstraße auf. Der dortige Hausmeister konnte uns für sonntags ein großes Zimmer zur Verfügung stellen und außerdem einen Kellerraum für die Jungschararbeit. Den Kellerraum hatte eine Jugendgruppe von der KPD gestaltet. Er war ganz in blau gehalten und mit einem Sowjetstern an der Decke geschmückt. Also, die Räume waren gemietet. Vom CVJM an der Esplanade bekamen wir Einladungsmaterial, um Jungen und junge Männer auf der Straße einzuladen. Mit unserem neuen Leiter hatten wir abgesprochen, dass mein Freund Hermann Schmidt die Jungschar I leiten sollte und ich die Jungschar II. Also konnte es losgehen. Mit meinen Einladungszetteln zur Jungscharstunde ging ich auf die Straße. Zwei Jungen waren dann ins Volksheim gekommen. Nun, der Anfang war gemacht. Nach dem Spielen, las ich ihnen eine Geschichte vor und zum Schluss noch eine biblische Geschichte. Beim Weggehen bekamen sie den Wunsch mit, doch beim nächsten Mal jeder einen anderen Jungen mitzubringen. Es dauerte nicht lange, so reichte der Raum nicht mehr aus. Auch wurde der Wunsch geäußert, einen eigenen Jungscharwimpel zu haben.
Wir trugen uns mit großen Plänen, die im nächsten Jahr erfüllt werden sollten. In meinem Beruf lief die Arbeit auf Sparflamme. So hatte ich hier für die Jugendarbeit viel Zeit. Abends traf ich oft mit Hermann zusammen, um mit ihm Pläne und auch Probleme zu diskutieren. Wenn wir Geld hatten, gingen wir in Groß Borstel ins Cafe, saßen da in einer Ecke und tranken eine Tasse Kakao. Wie es so bei jungen Menschen ist, es gab ja so viele Probleme, die gelöst werden mussten.
Meine Mutter war immer erstaunt über meine abendlichen Aktivitäten. In der Woche hatten wir mit den Älteren unsere Bibelstunden und am Sonntagnachmittag unsere Versammlung mit Vorträgen und Berichten von Tagungen und Reisen. Der Verein mit seinen verschiedenen Abteilungen wuchs und blühte.
Dann kam für mich ein Schlag. Hermann traf eine Mädchengruppe in der Breitenfelderstraße und verknallte sich in eins der Mädchen, so doll, dass unsere Freundschaft in die Brüche ging. Wie wir hörten, verlobte er sich noch, doch dann platzte diese Verlobung. Für unsere Abteilung war er verloren, er ging seine eigenen Wege. Viel später kam er mal zu uns in der Horner Landstraße zu Besuch. Er hatte geheiratet, aber vom CVJM wollte er nicht mehr viel wissen, warum, das konnte ich nicht herausfinden. Dann habe ich nichts mehr von ihm gehört, bis ich in der Zeitung seine Todesanzeige las.
In meinem Beruf war in der Zeit mit Arbeit nicht viel los. Oft saß ich in der kalten Werkstatt und wartete auf Aufträge. Manchmal waren es in der Woche nur 15 Stunden, die ausbezahlt wurden. Mein Mittagbrot war in der Kälte so gefroren, dass ich die Brotscheiben über der Gasflamme auftaute.
Mutter muss schon gezaubert haben, um mit dem wenigen Geld über die Runden zu kommen.
Mit meiner Schwester hatten wir auch Erziehungsschwierigkeiten. Mutter litt unter dem Verlust des Ehemanns und ich selber hatte meine Probleme und die Aufgabe mit der Jungschar. So konnten wir Mariechen in ihrer Entwicklung nicht verstehen und darum auch nicht helfen.
Der harte Winter 1928/29 ging vorüber. Es waren viele Frostschäden entstanden, verstopfte Abflüsse und eingefrorene Wasserleitungen. Dadurch hatten wir wieder mehr Arbeit und ich brachte mehr Geld nach Hause.
Als Pfingsten kam, rüstete der CVJM Esplanade zu einem Jungmännertreffen in Stuttgart. Eine Gruppe von uns durfte dabei sein. Ich bekam ein paar Tage Urlaub und fuhr mit dem Generalsekretär Stoelzner nach Stuttgart zur großen Tagung. Auf dem Marktplatz war das Treffen der vielen jungen Männer aus ganz Deutschland. In Stuttgart besaß der CVJM ein großes Vereinshaus mit einem Wohnheim für junge Männer . Das Haus hatte sogar ein eigenes Schwimmbad und ein eigenes Kraftwerk. Auf dem Dach des Hauses war in großen Buchstaben die Losung der Tagung zu lesen: „Wir sollen Gott fürchten und lieben.“
Wir Hamburger wurden in Privatquartieren untergebracht. Ich wohnte bei einer Familie Thierfelder in Feuerbach. Es waren sehr liebe Leute, wir verstanden uns prächtig. Zum Abschluss der Tagung, ging es nach Degerloch zu einem Waldcafe mit einer großen Wiese. Hier sprachen dann Männer aus dem Verband des weltweiten CVJM. Ein älterer Herr mit Namen Elsässer rief uns zu: „Junge Männer, nehmt aus unseren Händen die Kreuzesfahne und tragt sie weiter ins deutsche Volk.“ Nach der Schlusskundgebung war eine Schwarzwaldwanderung vorgesehen. So zogen wir dann mit unserem Leiter durch den Schwarzwald und besuchten das Monbachtal mit seiner romantischen Umgebung. In Freudenstadt machten wir Quartier und von dort ging es zur Ruine Hohen-Urach. Zum Abschluss besichtigten wir das Heidelberger Schloss und sahen dort im Keller das große Fass. An der Wand hing ein Kasten, wenn man an dem Griff zog, kam ein Fuchsschwanz herausgeschossen und konnte einen schon erschrecken. Von dieser erlebnisreichen Fahrt sind wir froh nach Hamburg zurückgekehrt und hatten daheim viel zu erzählen.
Der CVJM Eppendorf machte weitere Fortschritte. Oft gingen wir mit einer großen Schar auf Heidefahrt.
In Deutschland sah es wirtschaftlich mies aus. Die Erwerbslosenzahlen stiegen und stiegen, bald hatte man 6 Millionen erreicht und die Verzweiflung stieg. Man versuchte, mit Notverordnungen etwas Ordnung in die Wirtschaft zu bringen, aber dem Reichskanzler Brüning gelang das nicht. Auf den Straßen nahmen die Parteienauseinandersetzungen blutige Formen an.
Es war eigenartig, zu der Zeit hatten wir einen großen Zulauf von Jungen und jungen Männern. Die Jungschar war auf über 50 Jungen angewachsen. Der Wunsch wurde laut, doch einmal draußen im Zelt zu schlafen. Nahe am Flughafen fand ich ein passendes Waldgelände. In der Nähe war ein Bauernhof, denn wir brauchten Wasser zum Abkochen. (Heute hat der Flughafen das ganze Gebiet geschluckt).
Die ganze Meute zog also los. Als Zeltmaterial hatten wir Dachpappe mitgenommen. Aus Holzstangen machten wir ein Gerüst, worauf die Dachpappe kam. Die Jungen waren begeistert. Abends lagen wir am Lagerfeuer und es wurden Geistergeschichten erzählt. Wasser holten wir beim Bauern aus einem Soot, wo das Wasser in einem tiefen Loch gesammelt wurde. Für unsere Verpflegung hatten wir Brote von zu Hause mitgenommen. So kochten wir nur Kaffee.
Solche Fahrten haben wir oft unternommen, dann aber nicht mehr mit Dachpappe. Es gab eine Möglichkeit, uns bei Serchinger in der Bachstraße, Zeltbahnen zu leihen. Am Montag mussten diese in ordentlichem Zustand wieder zurückgebracht werden, was immer viel Zeit kostete.
Im Herbst starteten wir die erste Herbstfahrt in meinem Leben, (später kamen noch viele dazu).
Bei Maschen hatte ich ein Heim der Veddeler Gemeinde ausfindig gemacht. Ein Diakon Unverricht war auf diesem Grundstück, Reiherhorst, der Hausvater. Auf dem Gelände stand eine große Baracke mit Waschraum. Dazu gab es ein paar kleine Hütten. Die Küche war in einem festen Bau untergebracht.
Wir waren eine nette Gruppe, die auch äußerlich erkennbar war, durch die grünen Fahrtenhemden mit dem grauen Halstuch. Wir streiften durch die Gegend, einmal nahm uns der Bauer auf seinem Tankwagen mit. Zum Mittag mussten die Jungen Kartoffel schälen und beim Kochen des Essens helfen. Kein Tag verging ohne ein biblisches Wort mit Auslegung. Auch wurde kräftig gesungen.
In der Jugendabteilung ging es auch interessant zu. Für den Sonntag hatten unsere Leiter meistens einen Redner verpflichtet. Einmal war es ein Sachse, der uns mit seinen Geschichten mächtig zum Lachen brachte. Ein anderes Mal berichtete uns ein Vikar Hennig, von seinem Japanaufenthalt. Besonders beeindruckte uns, als er uns erzählte, wie sie den Vulkan Futschiyama auf männliche Weise gelöscht hätten.
Dann kam eines Tages ein Stadtmissionar mit Namen Zeisig, der prima aus dem Erzgebirge erzählen konnte. Seine Geschichten hatten Fortsetzungen und so saß dann wieder einmal der Zeisig vor uns und plauderte lustig darauf los. Als er fertig war, sagte er, ich bin der Bruder von dem, der vorher hier war. Sein Bruder war krank und er war für ihn eingesprungen. Es waren Zwillinge und sie glichen sich wie ein Ei dem anderen. Wir hatten nichts gemerkt. Später in der Martinskirche entdeckte ich, das die Zeisigs Diakone des Rauhen Hauses waren und einer von ihnen um 1888 hier Dienst getan hatte.
Jetzt planten wir ein Ferienlager Schäferhof und der CVJM gab uns einen Zuschuss, damit viele mitkommen könnten. Wir hatten eine schöne Gruppe aus Eppendorf zusammen. Natürlich war es für alle ein großes Erlebnis, nicht nur all die Spiele und das Baden. Man war auch erstaunt über die große Schar, die sich morgens um das Wort Gottes versammelte.
Für die Regentage gab es ein Tummelzelt, ausgelegt mit Stroh. Außerdem hatten wir Glück, einen besonderen Mann vom Reichsverband der Jungmännerwerke zu bekommen. Der Jungschar-Onkel Horch war ein lustiges Haus, der hatte tolle Scherze auf Lager und konnte Geschichten erzählen, sodass die Jungen nicht genug bekommen konnten. Natürlich gab es auch die berühmten Speergefechte und abends am Lagerfeuer Geistergeschichten.
Mit meiner Eppendorfer Gruppe gab es noch eine kleine Panne, einige hatten sich daneben benommen, was natürlich wieder ausgebügelt wurde.
Sonst war es eine erlebnisreiche Zeit. Unsere Jungschar wuchs und wuchs. Wir schafften eine Wanderkluft an, dazu eine Kopfbedeckung. Unsere Gruppe konnte sich schon sehen lassen.
Im Volksheim war unser Bleiben nicht mehr angebracht. So suchte Georg Andresen ein neues Quartier und hatte Glück. Im Lokstedter Weg fand er in der Villa von Fräulein Bertoh eine Unterkunft. Wir konnten uns dort häuslich einrichten. Weil das Haus mit Garten an der Straße lag, musste am Gartenzaun ein Schaukasten angebracht werden. Für den Inhalt, mitsamt Bildern, sorgte ich.
Inzwischen hatte ich mir einen gebrauchten Fotoapparat gekauft und nun machte ich viele Aufnahmen. Ich bin oft am Flughafen gewesen und habe dort photographiert. Die Bilder zeigten dort noch Wald und dann die Regulierung der Tarpenbek. Das kostete uns den Zeltplatz, den wir bisher so in der Nähe hatten. Natürlich musste der Flughafen vergrößert werden, denn Hamburg wollte das Kreuz des Nordens für den Flugverkehr werden.
Die Wirtschaft in Deutschland lag danieder, die ehemaligen Feinde verlangten Milliardenbeträge als Kriegsschuld und so machten sie die Wirtschaft immer mehr kaputt. Es geht aber oft in der Welt so, wo der Sieger meint über den Schwachen zu herrschen, wird er eines Tages die Früchte seines Hasses ernten. Im Deutschen Volk kamen immer mehr radikale Kräfte an die Oberfläche, wer Wind sät, wird Sturm ernten!
Bei uns hier in Eppendorf ging die Jugendarbeit fröhlich weiter. Im nächsten Sommer, wir schrieben das Jahr 1931, gab es auch politische Auseinandersetzungen mit den Jungkommunisten. Sie hatten sich von der Kirche losgesagt. Ihr Wahlspruch hieß: "Wir haben Gott aus den Herzen entfernt, nun erst haben wir lachen und spielen gelernt." In der Kegelhofstraße war die Hochburg der Kommunisten. Gegenüber der Tarpenbekstraße, Ecke Lokstedterweg, hatte Ernst Thälmann seine Wohnung. Der Balkon war stets mit kommunistischen Parolen geschmückt.
In diesem Sommer also, nahm ich mir mehrere Tage Urlaub, um als Helfer im Ferienlager Schäferhof mitzumachen. Das waren tolle Tage und Nächte! Mit einem Freund zusammen haben wir das Lager in Atem gehalten. Eines Nachts war in einem Zelt die
Schwarze Hand am Werk. Mit Tusche haben wir die Schläfer gekennzeichnet. Ein Zettel am Zeltpfosten mit einer gemalten schwarzen Hand darauf, zeugte von der Gegenwart dieser Bande. Am anderen Morgen beim Antreten gab es ein großes Hallo und die Jungen aus den anderen Zelten hatten ihren Spaß. Oho, noch manch einer sollte das Unwesen dieser Bande zu spüren bekommen. Am Leitertisch wurde ich scharf ins Verhör genommen, aber wir schwiegen wie das Grab.
Eines Morgens hing an der Buche ein roter Fehdehandschuh, das bedeutete, dass, trotz verschärfter Wachen, das Wachzelt überfallen war. Das Wachzelt war zusammengebrochen. Die Wachen suchten, wie wild, das ganze Gelände ab, konnten aber nicht verhindern, dass im Wald die Pumpe quietschte und das Lagerfeuer gelöscht war.
Der Wachbericht am nächsten Morgen brachte viele zum Aufhorchen und man schwor der Bande Rache. Abends wurde der Wald abgesucht nach diesem unheimlichen Gesindel. Manch einer kam nicht ins Lager zurück, als man danach suchte, fand man ihn gefesselt am Baum. Am nächsten Tag berichteten unsere Krankenschwestern, sie hätten Mühe gehabt, in ihr Haus zu kommen, denn Schloss und Türgriff waren mit Fliegenfängern umwickelt gewesen.
Im Lager wurde der eine oder der andere Leiter verdächtigt, aber die Bande trieb ihr Unwesen weiter. Eines Nachts musste dann auch der Hauptleiter, Herr Serchinger dran glauben. Der schlief in dem Gerätehaus auf einem Feldbett. Wir besorgten uns eine Menge Fliegenfänger und drangen in das Haus ein. Der Leiter lag friedlich auf seinem Bett und schnarchte. Wir konnten in aller Ruhe über seine Bettdecke die Fliegenfänger ausbreiten und zum Schluss auf die Oberkannte der Tür eine Wasserschale stellen. Dann machten wir am Fenster einen Höllenlärm, flitzten durch den Wald zur Lagerwache und spielten die Unschuldigen. Wir warteten jetzt auf den gestörten Schläfer, der auch nach einiger Zeit auftauchte und von der Belästigung erzählte. Wir aber taten wie die Unschuldslämmer.
Am nächsten Morgen gab es über diesen Vorfall Rätselraten, aber wer die Unholde waren, ist nie herausgekommen. Jedenfalls war das Lager in diesem Jahr voller Überraschungen gewesen.
Ein Missionar Deckert machte mit uns ein Spiel, er ließ ein Negerdorf bauen, das von einem feindlichen Negerstamm überfallen und angezündet wurde. Natürlich gab es dazu auch eine Geschichte, warum dies Dorf dran glauben musste, weil es einen christlichen Missionar in seiner Mitte duldete.
Bei einem Speergefecht hatte ich eine Gruppe gegen die Blauen zu führen. Diese Gruppe wurde von dem Jugendsekretär Peter Jäger angeführt. Wir hatten uns in einer Sumpflandschaft zum Kampf gestellt. Meine Parole war, wie bei der Schlacht in den Masuren, es hier im Sumpf gleichzutun. Es gab einen tollen Kampf und der Wietholz kam als Sieger hervor. War das ein Jubel und die andere Partei mit ihrem Häuptling zog traurig von dannen. Es wurde im Lager noch lange über dieses Geländespiel debattiert, denn so was hatte man noch nicht erlebt.
Wir hatten auch einen jungen Theologen im Lager, der es gut verstand, Gottes Wort zu erklären. Vergessen werde ich nie die Stelle aus dem Korintherbrief, wo Paulus schreibt: „Ihr seid ein Brief Christi.“ Dieser Vikar Halfmann wurde später Bischof in Schleswig Holstein.
Von meiner Arbeit bei Meister Lampe gibt es nicht viel zu berichten. Es wurden nur kleine Aufträge vergeben, die nicht viel einbrachten. Was nötig war, wurde geflickt, sonst hatten die Hauseigentümer kein Geld für große Reparaturen.
Im CVJM war plötzlich eine Änderung für unser Heim eingetreten. Wir mussten das Lokal bei Fräulein Bertoh räumen. Es gelang uns, eine Bleibe im großen Saal auf der Anscharhöhe zu bekommen. Aber das war nicht mehr das, was wir brauchten. Dann kam eine Führungskrise hinzu. Ich musste die Jungschararbeit abgeben, was bei mir zu einem Protest führte, ich blieb dem Verein fern.
Inzwischen lernte ich einen jungen Mann kennen, Heini von Glan. Wir hatten beide unsere Probleme, er wurde mein Freund. Zu Ostern 1932 machten wir uns auf, an die Ostsee, auf den Priwall zu fahren.
Dort fanden wir ein Heim, wo wir, trotz schlechtem Wetter unsere weiteren Pläne besprachen. Wir waren beide nicht mehr im CVJM Eppendorf, denn uns gefiel die Art und Weise nicht, wie man mit uns umgegangen war.
Heini von Glan gehörte der Späherschaft Concordia in Hoheluft an. Eines Tages nahm er mich zu einem Elternabend mit, der im Gemeindesaal der Bethlehemkirche stattfand. Wir erlebten einen Elternabend, der ein großer Reinfall wurde. Ich sehe noch, wie die Jungen versuchten, ein Zeltlager auf der Bühne aufzubauen, was überhaupt nicht gelang. Auch waren nur sehr wenige Eltern gekommen. Zum Schluss mussten wir uns einen Streit der älteren Pfadfinder mit anhören. Keiner wollte die Verantwortung für die Gruppe übernehmen. Der bisherige Leiter war schwer erkrankt.
Da fragte man mich, ob ich das nicht übernehmen könnte. I ch willigte ein, doch nur zusammen mit dem Späherführer Herbert Künzel.
Ich hatte noch keine Ahnung von Pfadfinderarbeit. Der Herbert gab mir Unterricht und nach etlichen Monaten wurde ich zum Bundesleiter der CSC (Christliche Späherschaft Concordia) im Reichsverband der Jungmännerbünde verpflichtet. Jetzt durfte ich das Fahrtenhemd mit dem blauweißgestreiftem Halstuch tragen und bekam dazu den Späherausweis.
Nun gingen wir daran, den Mitgliederstand in die Höhe zu bringen. Ringsherum gab es mehrere Schulen und das Werben gelang besonders gut. Der Zustrom der Jungen war enorm, die Jungschar wurde größer, etliche ließen sich zum Jungspäher ausbilden und so hatten wir bald mehrere Sippen.
Leider wurde unsere Freude getrübt, weil der ehemalige Leiter der Concordia starb. Auch am politischen Himmel standen die Zeichen auf Sturm. Hitler hatte mit seiner Partei die Mehrheit im Reichstag gewonnen. Das Deutsche Volk wollte mit aller Macht aus der Krise heraus. Hitler versprach Arbeit und Brot und Schluss mit dem Gezänk der Parteien. Das Volk hörte diese Klänge gern und hatte zum Teil keine Ahnung, was dahinter steckte, aber viele glaubten ihm. Einmal waren es die Deutschnationalen, die mit ihren Verbänden in Hitler ihren Mann sahen. Und dann die alten Offiziere, die von einer neuen Wehrmacht träumten. Das Großkapital wiederum sah eine Chance, um wieder an die Macht zu kommen. Noch war das große Heer der Arbeitslosen da, die nicht mehr an die Parolen ihrer alten Parteien glaubten, man wollte aus der Not heraus und griff zum Parteiprogramm der Nazis.
So kam der 30. Januar 1933, wo Hitler mit dem Willen des Volkes Reichskanzler und dann von Hindenburg in der Garnisonskirche feierlich vereidigt wurde. Als der Volksverdreher erst die Macht hatte, konnte er schalten und walten, wie er wollte. Seine Nebenbuhler stellte er kalt oder ließ sie ohne Gerichtsurteil umbringen. Dabei denke ich an die Rhön-Affäre. Die SA wollte die erste Geige spielen, doch Hitler und die SS waren dagegen und so starben Rhön und seine Männer, über Nacht umgebracht von der SS.
Inzwischen hatte ich einen Vikar mit Namen Schmid kennen gelernt. In seinem Freundeskreis diskutierten wir, die jetzt in Gang gesetzten Verordnungen. Im März kam schon das Gesetz heraus, das zur Staatsjugend machte. Dazu gab es ein Gesetzblatt, das regelte, welche Jugend sich noch öffentlich zeigen durfte. Vieles wurde verboten oder aufgelöst. Parteien gab es bald nicht mehr. Wir sahen in Hitler den großen Elektriker, der alles gleichschaltete, ausschaltete, umpolte und isolierte. Wenn mehr Menschen Hitlers „Mein Kampf“ richtig gelesen hätten, hätte man gewusst, wohin der Karren läuft.
Als es mit der Eingliederung der Verbände begann, tauchten bei uns einige Führer der bündischen Jugend auf und wollten ihr Fell retten. Aber weil bei uns die Bibel im Mittelpunkt stand, zogen sie bald wieder ab. Später übernahmen diese Leute bei der Hitler-Jugend Führerposten und meinten, den Laden unterwandern zu können, doch daraus wurde nichts.
Hitler spielte eine neue Trumpfkarte aus, er trat aus dem Völkerbund aus und führte die allgemeine Wehrpflicht ein. So waren viele von der Straße, andere mussten zum Arbeitsdienst. Noch einen Trumpf hatte er, er ließ Autobahnen bauen und siehe da, die Erwerbslosenzahlen schrumpften.
In der Kirche machte sich eine politische Gruppe mausig, die Deutschen Christen, die auch Handlanger Hitlers wurde. Der hatte ja in seinen Reden immer das Wort von der Vorsehung gebraucht und dann die Fabel vom positiven Christentum. Wie das aussah, bekamen alle zu spüren, die nicht für Hitler waren. Mit Hitlers Gunst wurde ein Reichsbischof gewählt. Jetzt hatten die Deutschen Christen, unter dem „Rei-Bi“ Müller, in der Kirche was zu sagen. Die meisten von ihnen waren dem Hitler verschworen. Einige Männer mit Rückgrat erkannten, dass der Weg der DC verkehrt war. Sie gründeten unter Niemöller die Bekennende Kirche.
Auch bei uns in der Bethlehemkirche habe ich für diese Gemeinschaft geworben. Die Veranstaltungen fanden in der St. Gertrudkirche bei der Mundsburg Pastor Remee statt. In der Hamburgischen Landeskirche unter Bischof Tügel machten sich die Deutschen Christen mausig und hatten das Ruder an sich gerissen. Jugendpfarrer wurde der Sohn des alten Pastor Wehrmann, der natürlich an der Spitze SA-Mann sein musste.
Wir von der Pfadfinderschaft hatten alle Hände voll zu tun, denn zu uns kamen viele Jungen und wollten bei uns mitmachen, nur nicht in der Hitler-Jugend. In den Schulen wurde unsere Pfadfinder Flagge gehisst, von der H-J wollte man nichts wissen. Dies alles wurde später natürlich anders. Mit Druck und Rausschmiss wurde viel erreicht.
Dann kam von oben die Anordnung, wer in staatlichem Dienst steht, darf seine Kinder nicht in kirchliche Verbände schicken. Noch aber hatten wir freie Hand und nutzten unsere Freiheit für viele Fahrten.
Die Concordia hatte bei Langenhorn ein Freizeitgelände, wo wir uns oft aufhielten. Eines Tages waren wir wieder draußen und suchten uns Holz für unsere Feuerstelle auf einer nahegelegenen Wiese. Plötzlich tauchte der Bauer auf und pöbelte sehr laut herum. Ich höre noch, wie er der Stadt, Feuer und Schwefel wünschte zu ihrer Vernichtung. Keine 10 Jahre später traf dieser Fluch ein und über 40.000 Menschen mussten ihr Leben lassen. Natürlich haben wir dem Bauern das Holz wieder hingetragen, uns aber war für alle Zeit der Platz, den die Jungen Bundesfarm nannten, vergällt.
Die nächste Pfingstfahrt ging dann an den Schaalsee, nach Zarrentin, wo wir wunderschöne Stunden am See erlebten. Auch hier ahnten wir nicht, dass wir hierher erst wieder nach über 40 Jahren fahren durften. Eine andere Fahrt ging nach Bliesdorf an die Ostsee, in der Nähe von Grömitz. Hier war die Concordia schon früher gewesen. Es war eine tolle Stelle am Steilufer. Auf dem Bauernhof in der Nähe, konnten wir unsere Milch kaufen. Bei einem Nachtspiel erlebten wir, wie uns wildgewordene Kühe über die Weide hetzten und wir uns dann auf einen Baum flüchteten. Als wir eine Mittagspause auf dem Bauernhof hielten, kamen einige Jungen auf die Idee, mit einem Futtertrog und einem Holzkübel auf dem Jaucheteich in der Mitte des Hofes zu schippern. Alle anderen der Gruppe sahen vom Ufer aus zu. Ich fürchtete, dass die Sache nicht gut gehen könnte und siehe da, die Dinger kippten um und man lag in der Jauche. Wir mussten die Bengel erst mal abspritzen und die Klamotten wurden in der Ostsee gewaschen. Die Jungen stanken immer noch 10 Meilen gegen den Wind.
Die Hin- und Rückfahrt wurde damals immer mit einem Lastwagen mit Anhänger gemacht. Auf der Ladefläche waren Bänke befestigt und die Seitenwände waren mit Brettern abgesichert. Nur noch kurze Zeit waren diese Fahrzeuge zur Personenbeförderung zugelassen.
Im September bekamen wir eine Einladung vom Rauhen Haus. Dort wurde am 12.9.1933 das 100. Jubiläum gefeiert. Mit einer Hundertschaft nahmen wir mit einem Fackelzug daran teil.
Wenn der Herbst nahte, gingen wir mit einer Meute auf Herbstfahrt. Natürlich wurde unterwegs abgekocht. Der Hordentopf war immer dabei. Eingekauft wurde vorher, meistens leichte Sachen: Reis, Rosinen, Linsen, Pflaumen, dazu eine Schweinebacke, die ein Jungscharler mit Namen Jocki tragen musste. Wir hatten ihm eingeschärft, bei jeder Rast zu melden, dass die Schweinebacke noch da sei. Mittags machten wir Rast auf einem Bauernhof und futterten unser Brot. Plötzlich schrien die Jungen: „Der Hofhund, der Hund hat die Schweinebacke.“ Der Hund lief mit der Schweinebacke über den Hof. Nun gab es für die Jungen kein Halten. Mit Geschrei ging es hinter dem Hund her und der ließ aus Angst die Schweinebacke fallen. Von da an hieß unsere Schweinebacke die mit dem Hundebiss. Diese Geschichte passierte bei Dersau. Abends landeten wir in der Plöner Gegend auf einem Bauernhof, dort konnten wir im Backhaus abkochen und später im Stroh schlafen. Hier konnten die Jungen auch sehen, wie eine geschlachtete Kuh zerteilt wurde. Das ist für Städter ja nicht gerade alltäglich. Hier hatten wir noch ein aufregendes Erlebnis. Das „Örtchen“ befand sich inmitten eines Jaucheteichs, über einen Steg zu erreichen. Wir waren im Backhaus, als ganz aufgeregt einige Jungen zu uns geeilt kamen. Sie erzählten, einer sei in der Dunkelheit von dem Steg abgerutscht, als er das Örtchen aufsuchen wollte. Wir eilten raus, um zu sehen, was der Unglücksrabe machte. Der war schon aus der Brühe raus, aber er stank fürchterlich. Die Bauersfrau besorgte warmes Wasser und wir haben den Jaucheheini tüchtig abgespritzt. Sein Zeug wurde gewaschen, doch auch, als es trocken war, stank es immer noch. Dieser Geruch war nachhaltiger als 4711. Solche Abenteuer auf Fahrt sind doch unvergesslich geworden.
Doch nun muss ich mal wieder von meiner Arbeit berichten. Eines hatte der politische Wandel mit sich gebracht, der Arbeitsmarkt wurde langsam lebendig. Es gab wieder mehr Material, manches konnte neu gefertigt werden. Mit der Arbeit ging es langsam aufwärts, die Wirtschaft erholte sich. Dem Hitler war es gelungen, die Großindustriellen auf seine Seite zu ziehen.
In meinem Beruf machte die Arbeit wieder Spaß, denn die Hauswirte ließen mehr arbeiten. Es wurden Dächer neueingedeckt. Bei so einer Arbeit wäre es durch meine Schuld beinahe zu einem Brand gekommen. Es war Im Gehölz, auf dem Dach kochte der Topf mit der Klebemasse, als der Feuertopf plötzlich umkippte und Klebemasse samt Kohlenglut auf dem Dach lag. Die flüssige Masse fing Feuer und lief die schräge Dachfläche herunter, wie ein glühender Lavastrom. Im Nu brannte die ganze Dachfläche und es gab eine große Rauchwolke, die weithin sichtbar war. Irgendjemand hatte die Feuerwehr alarmiert. Ich behielt die Ruhe und versuchte, mit dem Sand, der immer mit aufs Dach gebracht wurde, die Flammen zu ersticken. Als die Feuerwehrmänner zur Luke herausschauten, hatte ich den Brand gelöscht und die Männer zogen wieder ab. Es gab noch ein paar Hinweise auf die Vorschriften, sonst nichts. Mein Meister war froh, dass alles noch so gut abgegangen war. Überhaupt muss ich eine gute Hand und Spürnase gehabt haben, denn bei Dachreparaturen hieß es meistens, schicken Sie den jungen Gesellen, der kann was.
Einmal mussten wir in einer Bäckerei die ganze Nacht arbeiten. Im Klo musste der Zementboden aufgeschlagen und die versackte Sielleitung ins rechte Lot gebracht werden. Das konnte nicht am Tag geschehen, weil der Betrieb nicht gestört werden sollte. Am anderen Tag war es mir doch komisch, so ohne Schlaf auskommen zu müssen.
Im Sommer gab es einmal einen Auftrag in der Bornstraße. Dort in der Wohngegend der Juden, mussten wir die Dachrinnen erneuern. Die wurden zunächst in der Werkstatt zu 4 Meter-Stücken zusammen gelötet und dann an Ort und Stelle gebracht. Da es ein sehr heißer Sommer war und man es um 10 Uhr auf dem Schieferdach kaum noch aushalten konnte, verabredete ich mit dem Lehrling, dass wir schon morgens um 4 Uhr anfangen und dann unsere Arbeit vor der großen Hitze beendet haben wollten. So hatten wir ganz früh Feierabend. Der Meister war mit unserer Arbeitszeit einverstanden. Ich durfte mir meine Arbeit oft mit Erlaubnis der Firma so einteilen, wie ich die Zeit brauchte.
Wegen der Jugendarbeit war es nötig geworden, am Donnerstag schon um 17 Uhr frei zu sein. So machte ich an dem Tag keine Mittagspause und konnte früher weggehen.
Bei meiner Meisterin muss ich wohl einen Stein im Brett gehabt haben, sie hatte eine besondere Art, mit mir umzugehen. Einmal brachte sie mir einen Teller mit Roter Grütze in die Werkstatt. Diese Grütze mit Früchten aus ihrem Niendorfer Garten hat mir ganz besonders gut geschmeckt. Ein anderes Mal hatte sie eine Bitte, ich möchte für sie ein Huhn schlachten. Das hatte ich noch nie getan. So wurde mir dann gezeigt, dass ich das Huhn erst mal tüchtig durch die Luft schleudern sollte, damit es besinnungslos sei und dann sollte der Kopf mit dem Beil auf dem Hauklotz abgeschlagen werden. Diese Henkerarbeit musste ich noch mehrere Male tun, bis die Hühner alle in die Pfanne gewandert waren.
Eines Tages hatte ich in einer Wohnung in der Lutterothstraße einen Rohrbruch zu beseitigen. Mit dieser Arbeit war ich nach ein paar Stunden fertig und erledigte dann noch einige andere Aufträge. Als ich danach wieder ins Geschäft kam, war jene Frau, bei der ich in der Küche den Rohrbruch repariert hatte, im Laden und klagte mich beim Meister an, ich hätte das Geld, das ihr Mann auf den Küchentisch gelegt hatte, gestohlen. Da kam aber meine Meisterin in Rage: "Unser Geselle tut das nicht, dafür kann ich meine Hand ins Feuer legen." Die Alte mit ihrem Vorwurf, ich sei ein Dieb, ließ sich nicht beruhigen und zog wutschnaubend ab. Erst am Abend, als ich von einer anderen Arbeit zurück kam, stand die Frau wieder im Laden und stammelte eine Entschuldigung. Ihr Mann wollte das Geld hinlegen, hatte es aber vergessen.
Hier kann man sehen, wie wichtig es ist, dass ein Meister ehrliche Mitarbeiter hat, denn wir arbeiteten ja meistens in den Wohnungen. Uns war auch wichtig, dass der Wohnungsinhaber bei der Arbeit dabei war, damit kein böses Gerücht aufkommen konnte.
Wir hatten die verschiedensten Arbeiten zu tun. Auch für die Klingelleitungen waren wir zuständig. Einmal bekam ich den Auftrag, in der Alardusstraße bei der Klingelleitung den Fehler zu suchen, den schon mehrere nicht finden konnten. Nun hieß es, Hugo, versuch du doch mal dein Glück. Also, ich hin, alle Leitungen durchprobiert, kein Strom, was nun? Ich nahm das Klingelbrett mit den Druckknöpfen ab, ich zog und bekam einige abgerissene Drähte zu Gesicht. Dann bin ich in die Parterrewohnung gegangen und habe mir die Stubenwand angesehen, an der draußen die Klingelleitungen waren. Dort in der Zimmerecke hing ein Spiegel, der wurde abgenommen und da sah ich, wie man versucht hatte, eine Haken in die Wand zu bekommen. Man hatte eine Reihe von Löchern in die Wand geschlagen, um den Haken zu befestigen. Nun hab ich die Wand aufgeschlagen und hervor kam die zerschlagene Klingelleitung. Die Leitung wurde erneuert und die Einwohner waren froh, wieder durch Klingeln erreicht zu werden. Die zerschlagene alte Leitung nahm ich mit in die Werkstatt und konnte dem Meister stolz meinen Arbeitserfolg melden. Der war natürlich froh, dass die Fehlerquelle endlich beseitigt war. Warum soll man nicht auch mal von Erfolgen aus seiner Arbeitswelt berichten, denn das gab auch Mut, den nächsten Arbeitstag wieder zu bewältigen.
Der Lehrling bei uns, der es mit der Ausbildung nicht so ernst genommen hatte, musste ein halbes Jahr nachholen. Ein neuer Lehrling kam. Er war Jude. Als wir ihn fragten warum er gerade dies Handwerk lernen wollte, antwortete er, dass er später nach Israel auswandern wolle. Er verschwand später heimlich von der Bildfläche, hoffentlich hat er es geschafft, vor Hitlers Judenverfolgung rechtzeitig aus Deutschland herauszukommen.
Man kümmerte sich um die ausländischen Mächte. Mit der neuen Wehrmacht marschierte man ins Ruhrgebiet und hat die Franzosen, die nicht weichen wollten einfach verdrängt.
Ja jetzt ging es also mit der Arbeit voran, Fleischfabriken stellten Konserven mit Fleisch im eigenen Saft, her. Wir wurden hellhörig. Ob da nicht etwa Vorrat für einen kommenden Krieg gehortet wurde? Auch die Waffenherstellung begann, und die Autobahnen wurden weiter gebaut, sollten das strategische Mittel beim Vormarsch werden?
Längst hatte Hitler die Hakenkreuzfahne zur nationalen Fahne erhoben und das Horst-Wessel-Lied als ergänzende nationale Hymne zum Deutschlandlied befohlen. Wo waren die nationalen Verbände und die Männer , die gegen Hitler waren? Wer den Mund aufmachte, wurde eingesperrt. Überall gab es 150%ige Nazis, die zu höheren Posten aufsteigen wollten und ihre Mitbürger bespitzelten.
Jetzt wird es wieder Zeit, aus der Jugendarbeit zu erzählen. So langsam machte sich die Hitler-Jugend mausig. Sie wollte Staatsjugend sein und duldete keine kirchlichen Verbände neben sich. Mehrere Male war der Schaukasten am Gemeindehaus eingeschlagen. Wir aber haben immer wieder neue Plakate hineingehängt, zum Ärger der H-J. Immerhin machten wir noch unsere Fahrten. Eine Sippe hatte beschlossen, im Sunder, einem Waldgebiet bei Klecken, in Zelten zu übernachten. Herbert Künzel, der Späherführer und ich hatten vor sie dort zu überfallen. Dafür hatten wir eine besondere Idee. Wir wollten uns als Landstreicher verkleiden. So fuhren wir von Hamburg aus in Richtung Klecken und tippelten als Landstreicher mit Wanderstock und Bündel zum Sunder. Bei Morgengrauen hatten wir den Zeltplatz entdeckt. Keine Wache war aufgestellt, alles pennte in seliger Ruh. Wir haben einen Höllenlärm gemacht und die Bande, die da unerlaubt im Wald zeltete, ausgeschimpft. Schlaftrunken krochen die Jungen voller Angst aus den Zelten und wollten fliehen. Uns aber hatten sie nicht erkannt. Wir mussten uns erst zu erkennen geben, dann brach ein erlöstes Gelächter aus. Wir haben dann noch mit den Jungen gefrühstückt und sind dann müde nach Hamburg gezogen.
So langsam wurde es politisch gefährlich. Es wurden Großkundgebungen im Sportpalast in Berlin abgehalten. Hitler und seine Männer mussten sich Gehör verschaffen. Auch die Deutschen Christen melden sich, es sollte eine neue Kirchenverfassung her. Ein Gesetz wurde durchgepaukt: Nichtarier durften nicht mehr Mitglied der Kirchen sein. Und das ließen sich die Bischöfe gefallen, außer Maharens in Würtemberg, Lillje in Hannover und Debelius in Berlin. Die traten sogar vor Hitler und fordern, er solle seine Hände von der Kirche lassen. Natürlich fand man bei Hitler kein Gehör.
Wir schrieben das Jahr 1935, es wurde ein gefährliches Jahr für uns. Einmal kam der Reichsbischof Müller nach Harburg und sprach in der Stadthalle. Wir fuhren hin: Was für ein Krampf. Er hatte eine Saalwache aus SA-Leuten bestellt und sprach über das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Er redete von Gott und dem Volk, das heimkehre und vom Vater-Gott wieder aufgenommen werde. Von Jesus Christus war überhaupt keine Rede. Und dabei ist es doch Jesus Christus, in dem Gott dem Menschen entgegen kommt. Nichts davon bei dem Reichsbischof. In meiner Erinnerung sehe ich diesen Müller nur schweißtriefend auf dem Rednerpult stehen, armer Mann. Nach dem Krieg fand ich in der Zeitung eine kleine Notiz, er habe sich das Leben genommen.
In Hoheluft flatterte mir ein Zettel auf den Tisch, ich solle alle Juden und Halbjuden aus der Jugendarbeit ausweisen. Diesem Befehl von Pastor Clausen, DC-Mann und förderndes Mitglied der SS, konnte ich natürlich nicht folgen. Wenn ich mich nicht für die Bischöfe Müller und Tügel entscheide, müsste ich die Schlüssel für das Gemeindehaus abgeben, die Jugendarbeit würde von Pastor Horn übernommen werden.
Daraufhin haben Herbert Künzel und ich uns mit dem Großen Kathechismus von Luther, auf den Weg zu Clausen gemacht. Ich hatte den Schlüssel in der Tasche aber auch unseren Entschluss, keine der beiden Bischöfe werden von uns anerkannt. Wir sagten dem Clausen, er solle den Absatz 7 im großen Kathechismus einmal lesen, wir beugten uns keinem Diktat, wir gehörten zur Bekennenden Kirche und hofften, ihm, Pastor Clausen später einmal die Hand geben zu können. Dann zogen wir ab. Noch am selben Tage, holten alle Sippenführer ihre Leute vor dem Gemeindehaus zusammen. Wir erzählten von unserem Entschluss. Wer bei dem neuen Jugendleiter bleiben wolle, solle das gerne tun. Aber was geschah? Alle wollten lieber mit uns ins Abenteuer ziehen, als im Gemeindehaus zu bleiben. Jetzt wurde abgesprochen, wenn wir ein neues Heim gefunden hätten, würde dies durch die Läufer der einzelnen Sippen bekannt gemacht. Nun ging ich auf die Suche und landete im Pfarrhaus der Phillipuskirche in der Bismarckstraße. Dort am Platz gab es einen Konfirmandensaal und ein Kirchenschiff ohne Turm. Mit dem Pastor Jensen kam ich schnell ins Reine. Unsere Concordia durfte im Konfirmandensaal ihre Stunden abhalten. Dies ging eine Zeitlang gut, bis ich eines Nachmittags unsere Leute vor dem Pfarrhaus versammelt antraf. Auf meine Frage, was los sei, hörte ich, dass der Pastor uns nicht mehr in den Saal ließe. Ich hab also nachgefragt und hörte, Pastor Clausen habe angerufen und darauf aufmerksam gemacht, dass ich gegen den Reichsbischof und Tügel sei. Solche Leute seien in der Kirche nicht tragbar und so müssten wir raus. Nun waren wir wieder vogelfrei, und ich lief durch die Straßen, um ein Lokal zu finden. Überall wollte man für die leerstehenden Läden Miete haben, wir aber hatten kein Geld.
Hinter dem Gemeindehaus verlief die Alsenstraße. Dort sah ich auf dem Hof eines Etagenhauses eine Wellblechbaracke, die leer stand. Beim Verwalter fragte ich nach dem Eigentümer und bekam eine Telefonnummer in Rissen. Nach einem längeren Gespräch, in dem ich unsere Lage schilderte, gab der Mann, den ich nie gesehen habe, die Einwilligung, dass wir die Baracke benutzen dürften. Der Verwalter bekam die Anweisung, uns den Schlüssel auszuhändigen. Bei den Jungen war der Jubel natürlich groß. Der Raum musste noch wohnlich hergerichtet werden, auch ein kleiner Kanonenofen wurde beschafft. Die Jungen brachten alles herbei, Hocker und Kohlen für den Ofen. So konnten wir unsere Stunden wieder aufnehmen.
Im Hintergrund versuchte die HJ, uns Schwierigkeiten zu machen. In der Wrangelstraße hatte dieser Verein sein Unterbannbüro. Ein gewisser Hohmann, der sich aufspielte, die einzige deutsche Jugend zu vertreten, verlangte von mir, ich solle mich wegen der Concordia verantworten. Da saßen dann seine Unterführer mit ihm, mir gegenüber und wollten mir klar machen, dass der deutsche Mensch zuerst einmal Nationalsozialist sei. Ich aber entgegnete ihm, durch die Geburt und Gottes Willen sei er Deutscher. Man musste mich ziehen lassen. Unsere Arbeit war nicht illegal. Ich hatte den Leiterausweis vom Jungmännerwerk mit dem silbernen Eichenkreuz. Wenn auch die Kirche nicht ihre Hand über uns hielt, dem Verband, der ja ein kirchlicher war, konnten sie nichts anhaben.
Diesen Hohmann traf ich nach dem Krieg, in einem Gefangenenlager am Rhein, wieder, wo er vor seinem Zelt saß und vergangenen Zeiten nachtrauerte. Zum Gottesdienst, zu dem ich ihn einlud, wollte er nicht kommen. Ja, dass es mal so kommen sollte, damit hatten diese Angeber nicht gerechnet.
Doch zurück zu 1935. Vom Reichsverband der Jungmännerbünde wurde eingeladen, im Sommer ein Bibellager auf Borkum mitzumachen. Mit einer kleinen Gruppe sind wir dann über mehrere Jahre immer zu diesem 14tägigen Lager gefahren. Wir fuhren mit dem Rad Richtung Emden. Unterwegs konnten wir in Apen in dem Pfarrhaus übernachten. Wir hatten ein herzliches Verhältnis zu Pastor Stöver. Bei der Morgenandacht legte er Texte aus dem Alten Testament so aus, dass das Reich Adolf Hitlers, dem Untergang geweiht sei. In Emden sind wir auf die Fähre gestiegen und nach Borkum geschippert. Am Anlegesteg auf Borkum wartete die Inselbahn und brachte uns zur Waterdelle. Dort hatte der CVJM ein Grundstück mit einem Wirtschaftshaus. Ringsum in den Dünen standen die Zelte. Wir hatten berühmte Männer aus dem Werk, die hielten uns die Bibelarbeit. Über 100 junge Männer saßen morgens in den Dünen und lauschten den Worten von Paul le Seur, der es besonders gut verstand, uns das Wort Gottes lebendig auszulegen. Zu bestimmten Zeiten, wegen der Tide, durften wir in der Brandung baden. Ich war der Gruppe der Rettungsschwimmer zugeteilt, denn ich hatte zuvor im Kellinghusenbad die Prüfung zum Rettungsschwimmer abgelegt und dabei die silberne Nadel erworben. Anfangs waren es noch unbeschwerte Stunden. Später musste bei Freizeiten immer erst eine Genehmigung eingeholt werden, denn die Partei wollte wissen, was die evvangelische Jugend so treibt.
Inzwischen hatten wir mit unseren Jungen ausgemacht, jeden Morgen treffen wir uns in unserer Baracke zur Morgenandacht, soweit jeder Zeit hatte. Wir waren immer eine kleine Gruppe, die mit Gottes Wort in den Tag ging. Nach einem halben Jahr sah der Kirchenvorstand ein, der Wille der Concorden war nicht zu brechen und wir durften wieder im Gemeindehaus unsere alten Räume einnahmen. Die Hitlerjugend hatte dabei das Nachsehen.
Zu Pfingsten 1936 wurde vom Reichsverband zu einem Jungmännertreffen nach Danzig eingeladen. Danzig war Freistadt, um dorthin zu kommen, brauchte man einen Pass und musste durch den polnischen Korridor fahren, den die Feinde Deutschlands, damals beim Friedensvertrag, Polen zugesprochen hatten. Den ersten Pass mit dem polnischen Vermerk und der Quittung über 5 RM habe ich heute noch, wenn er auch jetzt nicht mehr gültig ist. In Danzig haben wir an den Veranstaltungen des Männerwerks teilgenommen, dann aber auch die alte Hansestadt besichtigt, den Artushof, den Dom und den alten Kran. Dabei gab es einen Zusammenstoß mit Führern der HJ, die uns die neuesten Nachrichten um die Ohren schlugen. Es gäbe nur eine Staatsjugend und das sei die Hitlerjugend. Alle anderen Verbände würden aufgelöst werden. So hatten alle Bemühungen, die christliche Jugend zu erhalten, nichts genutzt, es war ja auch nicht anders zu erwarten gewesen.
Jetzt gingen wir harten Zeiten entgegen. Im Heim hatten wir uns Hitlers „Mein Kampf“ vorgenommen. Dieses Machwerk wurde zerpflückt und kritisiert. Das muss wohl auch nach draußen gedrungen sein. Auf Umwegen hörten wir, dass die SA unser Heim stürmen und auseinander nehmen wolle. Also mussten wir auf der Hut sein. Inzwischen begannen die HJ und die SS gegen uns zu hetzen und Lügen zu verbreiten. Wir aber demonstrierten mit Wimpeln und Fahnen in Hamburgs Straßen. Auch durch die Mönckebergstraße ging unser Marsch mit dem Lied: Es rauscht durch deutsche Wälder... Refrain: Deutsche Jugend heraus. Ein Vers lautete: Erst vom eitlen Wesen und falschem Götzentand, im innersten genesen, sich Herz zu Herzen fand, denn wie in Vätertagen mag für das deutsche Haus, der Freiheit Stunde schlagen: Deutsche Jugend heraus. Dieses Lied stand gegen Hitler und seine Meute.
In Hamburg hatte Bischof Tügel für die Eingliederung der Evangelischen Jugend den Pastor Vorrath ernannt. Er hieß bei uns nur Pastor Verrat. Die Kirche ließ sich die Jugend aus der Hand nehmen. Jetzt wurde auch die Überwachung unserer Arbeit von Seiten der HJ immer stärker. Im Hamburger Tageblatt, einem Naziblatt, brachte man unwahre Artikel über die Evangelische Jugend an die Öffentlichkeit. Kurz vor der Eingliederung wurden Flugblätter gedruckt und von Klebekolonnen der HJ und der SS an die Häuserfronten geklebt. Wir überraschten so eine Kolonne, gingen hinterher und rissen die Plakate mit den dicken Lügen wieder ab. Dabei kam es in Eimsbüttel zu Handgreiflichkeiten, wobei mein Schneidezahn ein Stück verlor, was bis heute zu sehen ist.
Dann kam der Sonntagnachmittag, an dem unsere ganze, große Gruppe vor dem Gemeindehaus angetreten war. Ich gab vor der versammelten Mannschaft bekannt, was uns erwartete: Die Evangelische Jugend darf nicht mehr in alter Weise auftreten, keine Fahrten machen, auch die Pfadfinderkluft und alle Wimpel und Fahnen seien verboten worden. Man dürfe nur in kirchlichen Räumen christliche Stunden abhalten. Ich habe dann jedem freigestellt, unter diesen Bedingungen bei uns weiter mitzumachen. Für uns galt in dieser Stunde nur eins, die Eingliederung machen wir so nicht mit. Wir sangen nochmals unser Lied: „Deutsche Jugend heraus“, rollten Fahnen und Wimpel ein und traten weg. Wir würden nicht zur HJ übergehen, wo Eltern meinten, sie müssten ihre Jungen zur Staatsjugend schicken, mögen sie es tun, wir aber stünden gegen diese Art Jugenderziehung.
Am Abend wurden sämtliche Jugendleiter von dem obersten Führer der HJ, Kohlmeyer, ins Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof, eingeladen. In seiner Ansprache wollte er uns vor Augen führen, wie gut doch die Arbeit der Hitlerjugend sei. Unter anderem meinte er, mit den Worten des Alten Fritz, jeder könne ja nach seiner Fasson selig werden. Darauf ging ein ablehnendes Raunen durch den Saal. Nun konnte uns die HJ Führung den Buckel runterrutschen.
Ein paar Tage später, hatte man mir das Kampfblatt der SS, das „Schwarze Korps“ vor die Bürotür gelegt. In einem Artikel wollte man Pastor Dr. Witte etwas anhängen. Er war früher in Lübeck Diakonissenpastor gewesen, da wäre etwas mit einer Schwester gewesen. So versuchte man auf allen Gebieten, kirchlichen Mitarbeiten etwas anzuhängen, immer mit dem Gedanken, auch wenn das nicht stimmte, etwas bleibt schon hängen.
Eines Abends, wir waren in meinem Büro um die Bibel versammelt, klopfte es an der Tür, zwei HJ Führer mit einer dicken Kordel vor der Brust wollten wissen, was wir so treiben. Natürlich konnten sie an der Bibelstunde teilnehmen. Bald ging man zum Angriff auf Bibel und Kirche über. Natürlich bekamen sie von uns tüchtig Kontra. Dann spielten sie ihren Trumpf aus, wenn das Reich erst ordentlich gefestigt sei, innen wie außen, dann werde es keine Kirchensteuern mehr geben. Wir antworteten darauf, dann würde man sehen wo die wirklichen Gemeindeglieder sind. Dann wussten sie bald nicht mehr weiter und nahmen die katholische Kirche ins Vesier. Ich sagte nur, das sei nicht unser Gebiet. Dann zogen sie bedeppt ab, ob sie klüger geworden waren, wussten wir nicht.
Von nun an, durften wir uns nicht mehr Concordia nennen. Wir legten uns den Namen Evangelischer Jungendienst Hoheluft zu. Es war erstaunlich, wie viele Jungen noch zu uns kamen. Natürlich machten wir jetzt vermehrt Bibelfreizeiten. Jede dieser Freizeit musste über das Jugendpfarramt gemeldet werden. Seit einiger Zeit hatten wir ein Kinderheim in Alveslohe als Stützpunkt. Das Haus hatte einen Saal. In der Küche aßen wir mit dem Hausvater Wendt und den Kindern unser Mittagessen. Es war immer schön, mit der Kindergemeinschaft und dem Hausvater, der auch die Morgenandacht hielt, zusammen zu sein. An einem Wochenende waren wir wieder draußen in Alveslohe zur Bibelfreizeit, als plötzlich die Saaltür aufgerissen wurde und eine Gruppe von HJ Führern in den Saal stürmte und unsere Versammlung störte. Natürlich wollte man uns überraschen und feststellen, dass wir keine Bibelarbeit trieben, aber damit hatte man kein Glück, die Bibeln lagen auf dem Tisch. Man brüllte in den Raum, alle HJ-Mitglieder sollten ihre Ausweise zeigen, um zu sehen, ob sie auch berechtigt seien das Koppelschloss zu tragen. Man konnte uns nichts anhaben, und so zogen sie wutschnaubend wieder ab .Geärgert hatte ich mich nur über den Hausvater, er hätte sie wegen Hausfriedensbruch feuern sollen, aber er hatte keinen Mumm.
Wir ließen uns aber nicht verschrecken, sondern fuhren im Sommer weiter ins Bibellager nach Borkum. Auch weiterhin wurden wir in Hoheluft überwacht. Das zeigte sich darin, dass ich eine Vorladung zur Gestapo Stadthausbrücke bekam. Dort sollte ich mich wegen der Jugendarbeit und der Verbreitung unserer Monatsblätter verantworten. In meiner Aktentasche hatte ich mehrere Exemplare dabei. Dem Beamten konnte ich Rede und Antwort stehen. Ich musste meinen Ausweis vom CVJM vorlegen und ebenso die Monatsblätter. Der Beamte hat sich alles aufgeschrieben, um den Bericht weiterzugeben. Wie es weitergehen sollte, habe ich später noch erfahren, denn die Nazis ließen so schnell keinen aus ihren Klauen. Man hatte auch herausgefunden, dass es bei uns in Hoheluft eine Gruppe der Bekennenden Kirche gab.
Natürlich machte sich das Muss zur Staatsjugend bemerkbar. Etliche sprangen ab. Was mich aber besonders wunderte, dass der Werner Landauer, ein Halbjude, eines Tages bei uns in SS-Uniform auftauchte. Von den alten Concorden waren schon damals einige zur SA gegangen.
Im Jungendienst waren wir aber immer noch eine Gruppe, die sich sehen lassen konnte. Wir waren eine verschworene Gemeinschaft, die sich treu zur Gemeinde bekannte. Ein Vater, eines unserer Jungen, der Maler war, hat uns im Heim einen Vers aus dem Gesangbuch an die Wand gemalt: Dein Kampf ist unser Sieg, dein Tod ist unser Leben, in deinen Wunden ist die Freiheit uns gegeben. Das entsprach ganz unserer Einstellung.
In der Adventszeit, 1936, gelang es mir, dass Pastor Dr. Schumacher, der unser persönlicher Freund war, für mich Geld locker machte, damit ich ein Bibelseminar in der Sekretärschule des CVJM in Kassel besuchen konnte. Ich wurde bei meinem Meister von der Arbeit beurlaubt und bekam die Genehmigung am Seminar teilzunehmen. Dafür war ich dem Pastor Dr. Schumacher sehr dankbar. In der Bibelschule gab es einen Kurs über den Korintherbrief, gehalten von Dr. Stange. Oft war nachmittags Sport, denn es gab auch eine Sportschule im Haus. Hero Lüst war für die Verwaltung des Hauses zuständig und hat uns vieles, was zur Jugendarbeit nötig ist, beigebracht. Mein Zimmer teilte ich mit einem Tschechen. Ab und zu wurde auch missionarisch gearbeitet. Ich trug Sonntagsblätter aus, oder wir gingen in ein nahegelegenes Dorf und luden die Jugend zur Sonntagsstunde ein. Eines steht fest, diese 14 Tage haben mir am inwendigen und äußeren Menschen gut getan. Später konnte ich viel von dem brauchen, was ich dort gelernt hatte.
In meinem Beruf durfte ich natürlich nicht schlechter werden. Arbeit war genug da, doch für den Erwerb von Metallen, gab es Bezugscheine. Wir konnten uns schon einen Reim darauf machen, Hitler brauchte das Metall für die Rüstung. Weil so schwer Blei zu bekommen war, hatte mein Meister versucht die angebotenen Plastikrohre zu verkleben, doch wenn der Wasserdruck sich nur wenig änderte, flog alles auseinander.
Eine neue Tätigkeit gab es für mich. Im Sommer mussten die Giebelwände geteert werden, weil sie sonst bei Regen die Feuchtigkeit durchließen. So schwebte ich oft in luftiger Höhe im Fahrstuhl an der Hauswand. Die Arbeit zwischen Himmel und Erde machte mir schon Spaß, nur das Anbringen der Haltetaue war oft schwierig. Wo es ging, wurden die Dachbalken zum Befestigen genommen, aber manchmal waren die Balken nicht in der gewünschten Nähe. Dann mussten Schornsteine her, und die waren nicht immer so standfest, wie man es sich wünschte. Wenn dann alles festgemacht war, wurde mit mehreren Mann die Belastungsprobe vorgenommen. Man stellte sich in den Fahrstuhl und dann wurde tüchtig geruckt. Einer war auf dem Dach und beobachtete, wie sich die Seile verhielten. Es war immer spannend, denn man wollte ja nicht abstürzen, wenn man mal eben in der 5. Etage hing. Oft wurden bei der Pinselei auch die Fenster mit Teer bekleckert. Dann musste ein Lappen mit Petroleum her und die Fenster wurden gründlich gesäubert.
Nicht nur im Fahrstuhl hing ich in großer Höhe, auch auf den Dächern war ich zu Hause. Oft kam der Ruf: „Hugo, du musst mal wieder auf das Dach der Christuskirche.“ Es hatten sich etliche Schiefer aus der Befestigung gelöst, die mussten wieder eingebunden werden. Also ging es dem Dach mit besonders langen Schieferleitern zu Leibe. Die mussten wir erst durch kleine Erkerfenster ziehen, dann wurden sie auf dem Schieferdach in Dachhaken gehängt und erst dann konnte die Reparatur beginnen. Beim Bombenangriff wurde diese Kirche auch getroffen und bekam später ein Pfannendach. Noch heute kann man sehen, wie hoch das alte Dach gewesen ist, an der Turmwand sieht man die alte Markierung. Überhaupt hatten wir dort an den drei Pastoraten viel zu tun. Oft waren wir in dem ersten Pastorat an der Fruchtallee. Dort wohnte Pastor Mummsen mit Frau und vielen Kindern. Bei einer Arbeit erlebte ich etwas Unvergessliches. Der Pastor kam nach Haus und rief im Treppenhaus: „Miezi bist du da?“ Von oben kam die Stimme seiner Frau: „Ja, Putzi ich bin hier.“ Wir haben uns über diese Begrüßung köstlich amüsiert. Noch heute brauche ich bei Lisa mal diese Anrede.
Noch etwas aus der Arbeitswelt, was nicht verschwiegen werden soll und sich ja später in einer anderen Gemeinde wiederholen sollte. Vor Weihnachten mussten immer zwei große Christbäume mit elektrischen Kerzen bestückt werden. Ich turnte dann mit einer langen Leiter um die Bäume herum, um sie mit den Kerzenketten zu behängen. Wenn dann alle Kerzen brannten, hatte ich ein stolzes Gefühl des Erfolges.
Eines steht fest, mein Beruf war sehr abwechslungsreich, manches habe ich auf diesen Kundschaftsfahrten erlebt, manches Gespräch geführt und dabei viele Menschen kennen gelernt.
Wie gesagt, unsere Jugendarbeit war, trotz der Eingliederung, nicht kaputt zu machen. Wir bekamen oft ältere Jungen, die bei uns mitmachen wollten. Unter anderen drei Brüder Schmidt, deren Mutter später sogar zu unserer Trauung in die Martinskirche kam. Dann war da Helmut Wittmaak, den wir „Langes Hemd“ nannten, der nach mir auch ins Rauhe Haus ging. Und dann Rudolf Wentorf, der Kirchenmusiker werden wollte und bei uns den Spitznamen „Halbe Note“
bekam. Viel später, so nach 40 Jahren trafen wir uns wieder, da war er Pastor in Seedorf am Schaalsee.
Da das 40ste Jahresfest der Concordia bevorstand, wurde zeitig ein Festprogramm aufgestellt und ein Laienspiel einstudiert. Aus dem Nordbund des CVJM hatte ich Pastor Forck, der auch Pastor in Hamm war, als Festredner gewinnen können. Wir waren mächtig dabei, damit das Fest gut gelingen sollte. Eine Bühne im Saal wurde erstellt und zum ersten Mal hing als Fahne das Kreuz auf der Weltkugel im Saal. Später wurde dieses Symbol, das Zeichen der gesamten Evangelischen Jugend Deutschlands. Wir hatten die Werbetrommel tüchtig gerührt, auch die alten Concorden wurden eingeladen. Eine Festfolge wurde gedruckt. Rudolfs Mutter hatte diese aufbewahrt und so konnten wir dieselbe ablichten.
Der Abend war gut besucht und alles klappte vorzüglich. Erst am Schluss gab es in der Garderobe eine Auseinandersetzung mit einigen alten Concorden, die in SA-Uniform gekommen waren. Man warf uns vor, wir hätten die Concordia verraten, und es wären staatspolitische Dinge zum Vorschein gekommen, die sich gegen den Staat richteten. Bei ihrem Abgang hieß es, wir würden noch so einiges erleben.
Später, als ich mit Pastor Forck in der Martinskirche zusammenarbeitete, erzählte er mir, auf Grund dieses Jahresfestes und seines Vortrags, sei er zur Gestapo befohlen worden. Mit den Concorden, die heute noch leben, sind wir stolz, dass wir damals solche Feier haben durften. Wir sangen damals das Lied: „Wach auf, wach auf du deutsches Land...“
Im Tausendjährigen Reich wurde man immer kühner, das Rheinland war jetzt frei, nun kam die Tschechoslowakei dran, dann Österreich und danach begann die Judenverfolgung ganz massiv. Als im Eppendorfer Weg bei einigen Juden, die Geschäfte zertrümmert wurden und die Synagogen brannten, wurden wir hellwach. Hatte nicht Hitler schon in „Mein Kampf“ allerlei Drohungen ausgestoßen. Jetzt hieß es, „Juden raus zum Arbeitseinsatz“. Wie man aber mit den Juden in den KZ`s umgegangen war, das kam für uns erst bei der Besetzung durch die Amerikaner heraus. Wohl ahnten viele von dem wüsten Treiben der SS etwas, aber das schreckliche Vernichten in den Gaskammern, wurde erst zu spät bekannt.
In Hamburg ging die Arbeit ihren gewohnten Gang. Wir schlugen uns recht und schlecht durch und merkten immer mehr, wo die sogenannte Reichspolitik hintrieb. Es roch nach Kriegsvorbereitung. Bischof Lilje und Niemöller hatte man verhaftet und die Deutschen Christen machten sich in der Kirche mausig.
Im Sommer waren wir wieder auf Borkum und erleben schöne Tage. Wir hatten viel inneren Gewinn. In der Freizeit sahen wir uns auch mal auf der Insel um. Borkum entwickelte sich langsam zu einem großen Seebad. Es gab aber auch noch die kleinen Häuser, deren Gärten mit großen Walknochen eingezäunt waren. Hier konnte man sehen, dass die Borkumer früher Walfänger waren, mancher Reichtum zeugt von dem damaligen Erfolg. Wir haben auch mal einen tüchtigen Sturm erlebt, an der Kurpromenade spritzte die Gischt haushoch. Die Nordseite der Insel muss jedes Jahr neu befestigt werden, denn das Meer frisst immer wieder an einigen Stellen. Früher konnte man die Nordseite nicht richtig befestigen und so hat der blanke Hans immer große Teile weggespült und manches Dorf versank.
Unsere Lagerleitung holte manchmal einen bekannten Borkumer Seemann zum Erzählen. Dabei wurde auch Seemannsgarn gesponnen, aber auch manche wahre Begebenheit kam zur Sprache. Wenn ein Schiff auf dem gefährlichen Borkumriff gestrandet war, waren die Borkumer als Strandräuber schnell zur Stelle, ehe der Strandvogt kam, um das angeschwemmte Strandgut zu beschlagnahmen. Wenn eine Zeitlang kein Schiff gestrandet war, war am Strand ein falsches Signalfeuer entzündet worden, um mal wieder Beute machen zu können. Wir waren von diesen Erzählungen des alten Seebären sehr angetan.
Eines Tages wurde mir im Lager gesagt, aus Hamburg kommt ein Pastor Wegeleben vom Rauhen Haus. Er sollte mit dem Flugzeug kommen, ob ich ihn wohl abholen würde. Also hin zum Inselflugplatz, gerade war die alte JU gelandet, und der Pastor entstieg dem Flugzeug. Wir machten uns bekannt und gingen zum Lager, wo Pastor Wegeleben später vor der Lagergemeinschaft einen Vortrag über das Rauhe Haus hielt. Er berichtete über die Ausbildung von jungen Männern für den Diakonenberuf in der Kirche. Von den Ausführungen des Redners und dem Prospekt über die Diakonenanstalt war ich ganz angetan und später kam dann der Entschluss, mich im Büro des Rauhen Hauses zu melden.
Ich schrieb einen Lebenslauf für die Anmeldung im Rauhen Haus und hatte ein Gespräch mit Tilman Frieß, über die beruflichen Möglichkeiten eines Diakons. Er meinte. ich könne auch Beamter werden. Ich möchte eine Ausbildung als Gemeindediakon machen und nicht zum Beamten. Ich bat gleichzeitig auch noch um etwas Zeit, um die Arbeit in der Concordia zunächst weiter zu machen. Von 1938 bis 1939 gelang es noch - später musste einer der anderen Concorden ran.
Wir feiertenn 1938 das Kirchweihfest der Bethlehemskirche mit. Mutter bekam eine Arbeit im Eppendorfer Krankenhaus. Sie war natürlich mit meinem Eintritt ins Rauhe Haus nicht einverstanden. Aber der 31.3.1938 war der Tag, ab dem es kein Zurück mehr gab. Bei Klempnermeister Lampe, Eichenstr. 27, schien mein Schritt kein Unbehagen auszulösen. Ersatz war da. Eine liebe Kundin aus der Alardusstraße wünschte mir Gottes Segen. Meine letzte Arbeit im März hatte ich im Pinneberger Weg. Ich musste eine neue Dachrinne anbringen.
Eintritt ins Rauhe Haus und Kriegsdienst
Bruder Wörwag machte mit uns einen Rundgang durch die Anstalt. Sonst gab es nur Anweisung zum Schlafen im Haus Tanne in einem Zimmer mit mehreren Anwärtern. Die nächsten Tage brachten für mich den Einsatz bei Arbeiten in der Anstalt. Ich war mit 29 Jahren eingetreten. „Was machen wir mit dem jungen Mann?“ Erst einmal musste ich zu Bruder Düwel, ein beliebtes Haus. Der hatte das Brüderbüro unter sich. Ich bekam den Vertrag zum Eintritt. Bei Austritt wären 3.000 RM fällig. 35 RM für Bücher und Unterhalt meiner Mutter. Was mich wunderte: Es gab keine Betreuung der jungen Brüder. Die zum Teil Älteren hielten sich sehr reserviert.
Wie ging es nun weiter im Rauhen Haus? Immer mehr junge Anwärter kamen. Wir lernen uns kennen, und weil nichts geschah, organisieren wir eine Gruppe. Zwischendurch wurde ich Pförtnerbruder: Telefonzentrale bedienen (stöpseln), Post in die Fächer einordnen, für Führungen Schlüssel fürs alte Haus herausgeben. Weil ich an den Schlüssel kam, gründen wir eine kleine Gruppe, eine Gebetsgemeinschaft. Wir trafen uns vor Arbeitsbeginn im alten Haus (Ruges Hus), in dem Wichern die ersten Anfänge gemacht hatte. Eine Zeitlang ging alles gut mit unserer Gruppe. Dann wurden wir verpfiffen. Es könnte etwas im Sinne des § 175 (damals strafbare Homosexualität) entstehen.
Pastor Wegeleben war der Direktor der Anstalt. Er wohnte in der I. Etage des Wichernhauses. Unten war die Verwaltung, die Pförtnerloge und der Brüdersaal. Ich sprach mit Pastor Wegeleben, um für uns eine Bibelstunde einzurichten. Wir wollen nicht ausbüchsen. Jeden Mittwoch hielt Pastor Wegeleben die Bibelstunde für uns Anwärter im Brüdersaal. Sonnabends wurde mit Öl und Sägespänen der Parkettboden in der Tanne gereinigt. Es war immer noch das Jahr 1938. Ich wurde in der Kanzlei bei Anni Schulz und Frau Esmarch eingesetzt: Akten durchstöbern und ordnen. In der Telefonzentrale hatte ich viel Spaß mit gemachten Anrufen. Wir ärgerten August Füßinger, indem wir seine nuschelige Sprache nachmachten. Am Schalter erlebte ich manchen älteren Bruder. Von Bruderschaft konnte keine Rede sein. Wir jüngeren Anfänger mussten uns schon durchbeißen. In der Anstalt musste ich Laub fegen und Obst pflücken. Dabei fiel ich von der Leiter und verletzte mit die Ferse. Das war noch lange zu spüren. Im Heizungskeller musste ich für die Küche Koks schaufeln. Einmal hatte ich die Post in der Küche zu verteilen und die Küchenmädchen umschwärmten einen wie die Bienen. Frieß kam hinzu: "Aber Bruder Wietholz, das ist verboten! Fräulein Sander holt doch die Post." - Komisches Mädchen.
Abends wurde die ausgehende Post von Pastor Wegeleben von dessen Hausmädchen gebracht. Sie musste frankiert werden. Es war meistens spät abends und dann ergab sich mit der Deern ein Plausch. Sie war ganz hübsch. Den damaligen Idolen entsprechend: blond, blauäugig und schlank. Es muss wohl im Herbst gewesen sein. Irgendeine Fahrt von der Concordia sollte sein. Vorher hatten wir uns zu einem Spaziergang verabredet. Ich wollte sie mal näher kennen lernen, was auch geschah, denn im Laufe des Gesprächs kamen wir auf die Zukunft zu sprechen und sie offenbarte mir, dass sie als braune Schwester zur NSV wollte. Später, zurück von der Fahrt, habe ich ihr eine Karte geschrieben, dass es mit uns nichts werden könne. Wo sie später abgeblieben ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich meine, sie so um 1950 in der Martinskirche gesehen zu haben. Pastor Dubbels war noch nicht verheiratet und wir hatten viele Kanzelschwalben. Nach seiner Heirat waren sie plötzlich weg.
Im Rauhen Haus wurde ich auch zur Nachtwache eingeteilt. Das Wachbuch im Wichernhauskeller, unser Quartier, war eine Sehenswürdigkeit für sich. Was haben die Brüder alles diesem Wachbuch anvertraut. Auch wir waren nicht schüchtern und manchen Vers und Ulk haben wir vom Stapel gelassen. Manchen Ulk haben wir uns auch mit den Haustöchtern erlaubt. In kleinen Gruppen ging man abends noch in die Anstalt. Wir sind zum Wirtschaftsgebäude geschlichen und haben mit Pappnägeln das Schlüsselloch dichtgemacht. Wir hatten unseren Spaß, wenn sie sich nicht helfen konnten und ältere Brüder holten, die ihnen helfen sollten. Ihre Bleibe war oben über Frieß’ Wohnung. Der Hausvater war oft entrüstet, wenn die Brüder ihren Spaß mit den Hausmädchen hatten: Leiter ans Fenster gestellt, die große Glocke vor dem Haus mit Wasser gefüllt als Frost war. Später wurde ein altes Sofa im Teich versenkt. Man glaubte, eine Leiche wäre im Wasser.
Mir wurde aufgetragen, abends mit der Holzknarre das Abendlied am Teich zu singen: „Hört ihr Herren, lasst Euch sagen...“ Zuerst mit Lampenfieber, denn vor den Brüdern wollte man keinen Misston fabrizieren - es wäre eine Blamage gewesen. Aber bei mir hatte man keinen Erfolg. Nur die Hausmädchen machten ihre Sparziergänge zu auffällig - denn, man spielte mit dem Gedanken, sich einen Bruder zu angeln - Ha!
Es war in mancher Hinsicht toll im Rauhen Haus. Nur musste man selbst zur Eigenhilfe greifen. Ein Beispiel: Der Totensonntag stand bevor, da kam mir der Gedanke, ein Laienspiel aufzuführen, was im Rauhen Haus eigentlich unmöglich war, denn die Brüder hatten doch keine Zeit. Wir nahmen uns die Zeit, um das Stück "" einzuüben. Dazu brauchten wir ein Mädchen und einen Geigenspieler. Die Haustochter von Pastor Wegeleben durften wir ausleihen und nach langem Suchen war Bruder Ferlau bereit, die Melodie „es ist ein Schnitter, der heißt der Tod“ mit der Geige zu spielen. Im Weinberg (altes Gemäuer mit Saal) wurde das Stück aufgeführt. Wir haben es gewagt, obwohl auch manche die Nase rümpften. Zu Weihnachten hatte ich für die Öffentlichkeit den Adventspruch aufgesagt: „Das Licht scheint in der Finsternis. Aber die Finsternis hatte es nicht begriffen.“ Bruder Noack spielte den Weihnachtsmann und hat dabei Bruder Düwel mit der Rute verdroschen; der aber konnte keinen Spaß vertragen.
1939
Ja, und dann feierten wir den Beginn des Jahres 1939. Im Nachhinein wissen wir, es war ein schicksalschweres Jahr. Unter uns jungen Brüdern hatten sich Freundschaften angebahnt, etwa mit Bruder Bull und Bruder Konopatzki. Der Erstere trat später aus. Von Konopotzki bekam ich nach dem Krieg ein Lebenszeichen. Er war Sekretär im CVJM geworden, und dann riss die Verbindung ab. Bruder Bull hatte Dienst in der Küche. So kam dann auch die Verbindung zu den Mädchen zustande. Dort machte ein Fräulein Gabriel ihr Haushaltsjahr. Am 20.01.1939 sollte auf der Heideburg ein Treffen der Jugend sein mit einem Vortrag von Pastor Wegeleben. An diesem Sonntag hatte ich nun in der Zentrale bis mittags Dienst. Also verabschiedeten wir uns um 14 Uhr im Stormarnweg - Hohle Rönne, Ecke Warendorf (steht heute noch).Vom Rauhen Haus durfte niemand sehen, dass wir uns mit Mädchen trafen. Die eine hatte noch ihre Schwester Emmi für Bruder Bull mitgebracht. Also los ging es mit der Bahn bis Harburg, dann durch den Wald. Wir hatten dabei angeregte Gespräche. Auf der Heideburg nahmen wir am Vortrag teil, später saßen wir in der Sonne. Es war für Januar ein warmer Tag. Vor dem Weg saßen wir in der Heideburg bei einem Heideburggetränk auf dem „berühmten" Sofa, was später nochmals in unserem Blickpunkt auftauchte. Auf dem Heimweg durch den Wald sprang dann der gewisse Funken über. Lisa Gabriel und der junge Bruder Wietholz wussten auf einmal, was los war, und ein paar Tage später kam dann von Lisa das Ja-Wort. Wie auf leisen Sohlen flogen wir förmlich dahin. Bruder Bull und ich gingen vom Berliner Tor zu Fuß ins Rauhe Haus Es war ein Weg der uns zu kurz vorkam. Am Tag später hatten wir uns durch den Verbindungsmann für den 1. Februar 1939 spät abends verabredet. Von uns Brüdern durfte abends keiner das Gelände verlassen. Ich hatte mir noch Maiglöckchen besorgt und abends bin ich dann über das Gitter hinter dem Rauhen Haus geklettert. Wir trafen uns und gingen Hand in Hand durch die Weddestraße. Da kam es dann zu dem berühmten Satz: "Bin ich Ihnen auch genehm?" Die Maiglöckchen und diese Erklärung taten mir das Nächste. Man muss die Lisa , die heute 11 Enkel hat, fragen. Jetzt hatte für uns beide das Rauhe Haus noch einen besonderen Glanz. Es kam vieles auf uns zu. In der Concordia-Hoheluft stellte ich nun mein Mädel vor. Es gab eine Enttäuschung, denn jetzt musste man mich teilen. Aber bei jeder Stunde in Hoheluft begleitete Lisa mich. Meine Mutter hatte mich schon immer gewarnt. "Die Mädel taugen alle nichts", war ihre Behauptung. Später wurde sie aber eines Anderen belehrt. Nicht zu vergessen, ich hatte auch eine 4 Jahre jüngere Schwester, die aber früh ihre eigenen Wege ging, heiratete und später in der Knauerstraße 11e, I. Etage, wohnte.
Dann passierte es, dass ich eines Tages vor unserer Wohnungstür stand, die man versiegelt hatte. Schlüssel musste ich bei der Polizei abholen. Mutter hatte in ihrem schweren Gemütszustand Hitler und Genossen aus dem Fenster rufend beleidigt. Daraufhin wurde sie von einem Nazi angezeigt und abgeholt. Mir wurde gesagt, sie sei in der Anstalt Friedrichsberg. Später kam sie nach Langenhorn und dann nach Pinneberg. Immer unter Aufsicht. Sie wurde mit Medikamenten vollgepumpt, um diese Gemütsanfälle zum Stillstand zu bringen, was aber nicht gelang.
Zwischendurch traf Helmut Wittmack, einer unserer neuen Concorden, im Rauhen Haus ein. Mit meinem Mädchen trafen wir uns oft, wenn wir Freizeit hatten. Es wurden Wanderungen an der Elbe entlang gemacht oder in die Heide. Manchmal waren wir auch im Garten, Horner Landstraße 439, wo der Vater von Lisa Mitbesitzer eines Hauses war. Es waren schöne Sommerabende in der Laube. Vom schwarzen Weg hinter dem Grundstück konnte man durch eine Pforte in den Garten gelangen. Natürlich waren die Eltern gespannt, was wohl ihre Tochter da herangeschleppt hatte. Aber noch blieb ich für die Eltern im Dunkeln.
Es gab allerlei Ereignisse in unserem Leben. Abends spät in der Anstalt schrieb ich Nachrichten der Bekennenden Kirche. Besuchte auch Versammlungen bei Pastor Remé in der St. Gertrud-Gemeinde. Zu Ostern erfüllte sich mein Wunsch, ins Seminar DW II - Diakonsklasse zu kommen. Am ersten Schultag hatte ich gleich eine Auseinandersetzung mit zwei Dozenten. Fragen, warum ich kein Abzeichen der Partei trüge. Zwei Stunden lang versuchte man, uns vom Nationalsozialismus zu überzeugen. Unsere Antwort vor ca. 12 Schülern: "Wir sind in der bekennenden Kirche." Dies schlug natürlich wie eine Bombe ein. Eine Dozentin wollte uns klarmachen, dass es ums Rauhe Haus geht. Wir säßen alle in einem Boot! Wir aber nicht! Daraus ergab sich eine Unstimmigkeit unter den Schüler-Brüdern. Ältere wollten austreten. Wir verabredeten am Nachmittag im Blohmspark ein geheimes Treffen, denn im Rauhen Haus waren wir uns nicht sicher genug. Viele der älteren Brüder gehörten ja verschiedenen Parteiorganisationen an. Im Park kam dann eine Aussprache zustande. Manche wollten austreten und nach Moritzburg gehen, was dann auch geschah. Mein Entschluss galt für alle anderen: Durch Weggehen ändern wir nichts. Aushalten, auch unter schwierigen Bedingungen. Es wird die Stunde kommen, wo es wieder anders werden wird. In der nächsten Zeit wurden wir schulwissenschaftlich auf Vordermann gebracht. Hier nahm sich Bruder Germer viel Zeit. Wir profitierten von dem, was er uns mitgab, doch eine ganze Menge. Von der Wichernschule tauchte auch ein Lehrer auf, der für Biologie zuständig war, aber auch SS-Mann war. Er versuchte, uns mit seiner Kollegin zu beeinflussen und erreichte das Gegenteil. Bei den Auseinandersetzungen ging es hart her und in der I. Etage lagen Füßinger und Jahnke aus dem Fenster und hörten mit. Man wagte aber nicht, uns zur Rede zu stellen, sondern suchte wohl einen Ausweg. Habe mit den verantwortlichen Leuten verhandelt, um 14 Tage Urlaub zu bekommen, um nach Borkum ins Bibellager zu fahren. Dies wurde von der RH-Leitung genehmigt. Nun sollte auch Lisa mit. Das Hindernis waren die Eltern. Flugs kaufte ich einen Blumenstrauß und besuchte Lisas Eltern. Stellte mich als Diakonsschüler des Rauhen Hauses vor und betörte die Mutter mit meinem nicht vorhandenen Charme. Immerhin, nach langem "Wenn und Aber", bekamen wir die Genehmigung gemeinsam zu fahren. Hoffentlich bekommen sie ihre Tochter heil wieder. Wir sind vom Hauptbahnhof Richtung Bremen mit dem Zug gefahren. Unsere Fahrräder hatten wir aufgegeben. Ab Bremen ging es per Pedes nach Apen ins Pfarrhaus. Pastor Stöver und Frau nahmen uns herzlich auf. Es sollte der letzte Besuch sein. Später hörten wir, das Pfarrhaus sei von einer Bombe vernichtet worden. Eigentlich lag es ganz abseits von Emden. Des Pfarrers Auslegung des Alten Testaments war immer auf die bedrohte Zeit durch Hitler ausgelegt. Von Emden fuhren wir mit der Fähre nach Borkum. Ein Foto zeigt Lisa beim Schreiben auf dem Schiff. Das Heim des Jungmänner-Verbandes Deutschland hieß Waterdelle. Wir verlebten schöne Tage der Gemeinsamkeit mit den jungen Leuten, die aus ganz Deutschland gekommen waren. Paul le Seur hielt uns in den Dünen die Bibelarbeit, die immer sehr ergiebig war. Unser Glaube bekam sehr viel Stärkung. Bei einer Stunde klang so etwas von einem Ahnen durch, dass die kommende Zeit schwierig werden könnte. Wir erleben unsere Ferienfreuden. Viel Baden, Bootsausfahrten, Besichtigung von Borkum. Suchten die Häuser der ehemaligen Walfänger, deren Gartenzäune mit Walknochen bespickt sind. Die Freizeit ging zu Ende und wir fuhren mit dem Rad durch Friesland. Übernachteten auf einem Bauernhof. Von dort ging es am anderen Morgen nach Bremerhaven zu der Familie von Großmutter Hinzes Stiefschwester. Am nächsten Tag besuchten wir den Sohn des Pfarrer v. Busch. Es war ein herrlicher Tag. Keiner ahnte, dass wir mit den Senioren des Rauhen Hauses ca. 40 Jahre später Ringstedt nochmals aufsuchen würden. Der Pastor dort hielt uns in der Dorfkirche die Abendandacht. Vorher hatten wir den alten Busch gefunden und besucht. Er erinnerte sich an die Gabriels. Von Ringstedt ging es, mit großer Mühe für Lisa, mit dem Rad weiter nach Moisburg. Wir schliefen sehr primitiv in Pastor Schwiegers Jugendheim. Von dort fuhren wir dann nach Hamburg. Ich ging ins Rauhe Haus und Lisa zu den Eltern.
Ich wurrde jetzt mal in jeder RH-Familie eingesetzt. Haus Eiche bei Bruder Fahrni, dann im Köcher bei den Lehrlingen. Morgens hieß es früh aufstehen. Auf Widerruf war ich bei Bruder Noack im Bienenkorb. Im Rauhen Haus war der Kampf der Diakone entbrannt. Ackermann, aus der Wichernschule, strammer Parteigenosse der Nazis im Bund mit der NSDAP-Kreisleitung aus Blohmspark. Wegeleben war kurz vor dem Weggang.
Lisa und ich wollten uns bald verloben. Wir wurden gebeten, im Rauhen Haus die Ringe nicht öffentlich zu tragen. Ältere Brüder könnten Anstoß daran nehmen. Blöd, aber so war es im Rauhen Haus: Keine Bräute während er Ausbildung. Pastor Wegeleben hatte man hinausgegrault und ein neuer Direktor kam: Pastor Donndorf, der nun den Kampf mit Ackermann aufnehmen musste. Eines Tages war es dann soweit, alle Familienleiter und Gehilfen mussten zu einer Versammlung, wo hohe Tiere der Partei dabei waren. Man musste sich entscheiden: Das alte Rauhe Haus mit seiner Erziehungsmethode fliegt auf oder es wird eine SS-Heimschule. Das Personal wollte man mit übernehmen. Ich hatte zu der Zeit Dienst in der Zentrale und wartete auf eine richtige Entscheidung. Erziehungsarbeit im Rauhen Haus aufgeben, war meine Parole. Bruder Helmut Wittmack kam zu mir in die Zentrale und berichtete. Unter dem Druck von Ackermann und dem Kreisleiter hatte man sich für die SS-Heimschule entschieden. Helmut berichtete: Ackermann hätte gesagt, Christen und Nationalisten seien ja dasselbe. Darauf Helmut Wittnack: „Die sind " Darauf Ackermann: Er wolle es nicht gehört haben. Nächstes Mal werde er ihn anzeigen. Wir aber waren von der Entscheidung bedient. Die Führung des Rauhen Hauses hatte kein Rückgrat gezeigt. Aber was für ein Wunder: Der Direktor Engelke wurde ja bei Reichsbischof Müller Reichsvikar. Zwischendurch hatten wir in der Stadthalle in Harburg den Reichsbischof erlebt. Armer Mann, schweißwischend stand er am Rednerpult, seine Leibwache der SA als Saalschutz. Er, der Bischof, legte das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus und zeigte auf Gott, holte auch den verlorenen Sohn heim, den Christus. Hier aber irrt dieser Reibi, wie wir ihn nannten, denn die ausgebreiteten Arme des Vaters sind ja Jesu Arme, denn nur durch ihn geht der Weg zum Vater. „Ich“, spricht Jesus, „bin der Weg und die Wahrheit. Niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“ Weil die Nazis Jesus als Juden ablehnten, musste man solche Auslegung bei den Deutschen Christen machen.
Im Rauhen Haus passierte viel Kleinkram. Von der Küche wurde ich zum Schlachtfest eingeladen. Mit Lisa machte ich abends viele Spaziergänge. Trotz Verbot! Der 1. September 1939 kam, und Hitler ging zum Angriff auf Polen über. Vorher hatte er einen Vertrag mit Stalin abgeschlossen, der viel Staub aufwirbelte in der Welt. Man hatte halb Polen an Russland verschachert und die andere Hälfte nahm sich Hitler. Die Baltenstädte gingen auch an Russland, ohne diese Völker zu fragen. Womit Hitler nicht gerechnet hatte: Frankreich und England erklärten Hitler den Krieg. Jetzt hatten wir den Salat. Hitler vereinnahmte sich schon vorher Staaten wie Österreich und die Tschechei. Im Blitzkrieg war Polen niedergeworfen. Wegen meines Magenleidens war ich auf der Krankenstation, wo ein alter Herr mit mir aß. Als er die Siegesfanfaren über Polen hörte, sagte er uns: „Was ist schon von Polen zu holen, als ein paar Stiefel ohne Sohlen.“ Dies habe ich nicht vergessen können, denn er sollte nur recht haben mit diesem Ausspruch. Unsere Klasse wurde bald aufgelöst. Viele Brüder wurden eingezogen. Wir halfen uns, wie wir nur konnten, in der Familie.
Im November 1939 bekam ich den Marschbefehl, zum Kattendorfer Hof bei Kaltenkirchen zu ziehen. Dort regierte Bruder Graul, zu dem ich nie ein gutes Verhältnis bekam. Bevor ich das Schweizerhaus mit den Zöglingen übernahm, gab er Arbeitsanweisung, in der Erziehung habe nur er das Recht der Züchtigung. Nun wurden bei uns ja auch Brüder von Zöglingen verprügelt. Dies Glück wollte ich mir ersparen und regierte im Schweizerhaus so mit den Zöglingen, dass wir ganz gut miteinander auskamen. Einmal bekam ein ganz fieser Bursche doch mal eine Tracht Prügel, weil er etwas geklaut hatte, was er nicht wieder hergeben wollte. Die gestohlene Uhr fanden wir aber in einem Lampenschirm. Einmal holte ich einen Zögling bei Rendsburg ab, der ausgekniffen war. Man musste schon höllisch aufpassen, dass er unterwegs nicht wieder abhaute.
Wir arbeiteten auf dem Feld und mussten Mist ausstreuen. Im Winter wurde in der Scheune gedroschen. Es gab auf dem Hof immer etwas zu tun. Vom Rauhen Haus kamen hierher die schwierigsten Jungen.
Weihnachten hatte ich Urlaub und konnte bei Gabriels schlafen. Das Fest verlebte ich dort in der Familie. Lisas Großmutter in Billstedt lernte ich dabei auch noch kennen. Es ging zurück auf den Kattenhof, den Bruder Graul mit Erfolg gegen die Eingliederung verteidigte. Plötzlich kam der gefürchtete Musterungsbefehl. Ab nach Kaltenkirchen: Untersuchung, und es hieß: KV, d.h. kriegsverwendungsfähig. Was lag nun wieder in der Luft? Hatte dieser Blödmann, oberster Kriegsherr Hitler, schon wieder was neues im Sinn?
1940
Der Winter war nicht sehr streng; Eis und Schnee gab es, aber man konnte damit zurechtkommen. Ab und zu gab es Wochenendurlaub. Dabei sprachen Lisa und ich uns ab, es möge zu Ostern 1940 zu einer Verlobung kommen. Erst einmal mussten die Eltern gefragt werden. So gab ich mir nach altem Brauch einen Ruck und bat die Eltern um die Hand ihrer Tochter Lisa. Weil ich kein unbeschriebenes Blatt für die Eltern war, konnte man schon ja sagen, auch wenn meine finanziellen Verhältnisse gleich null waren. Die Ausbildung war ja noch nicht abgeschlossen, immerhin war ich Diakonsschüler. Man lache uns deshalb nicht aus. Auch später auf unserer Heiratsurkunde ist dies so vermerkt. Warum? Gründe kamen Jahre danach. Also, die Verlobungsfeier wurde auf den 24.03.1940 gelegt, vorher wurden die Ringe angeprobt und bestellt. Mein Freundschaftsring mit dem Kreuz wurde eingeschmolzen und mit einer Zugabe von Gold oder allerlei Ringen wurden die Ringe von Onkel Paul, der Goldschmied war, hergestellt. Das eingeschmolzene Kreuz hat später immer in unserer Ehe die entscheidende Rolle gespielt.
Zu Ostern bekam ich vom Kattenhofer Hof Urlaub und mit unserem Kirchengang zur Martinskirche begann die Feier. Lisa hatte noch vorher bis in die Nacht Kuchen gebacken. Dabei habe ich versucht zu helfen und bei dem Ausstechen der Pasteten ein Glas zerbrochen. Zu Mittag gab es ein gutes Essen und Wein. Viele Tanten und Onkel waren gekommen, um dem jungen Paar und den Eltern zu gratulieren. Von meiner Seite konnte leider keiner kommen, dafür von Lisas Seite so reichlich, dass ich durch diese große Verwandtschaft nicht durchsteigen konnte. Wenn man mir Zeit lässt, würde ich es auch mal schaffen, damit zurecht zu kommen.
Wehrdienst im Krieg
Der Alltag kam wieder und womit jeder Mann rechnen musste: Natürlich kam prompt der Einberufungsbefehl. Immerhin hatte ich Glück, denn nun hieß es, am 6.05.1940, 18.00 Uhr, sich in der Böhm-Kaserne einzufinden. Bevor es los ging, waren mir noch ein paar Tage im Rauhen Haus vergönnt. Viele Brüder fehlten, andere protzten mit ihren Offiziersuniformen. Mir selber war es alles schnuppe: Hoffentlich ging diese ganze Chose bald vorüber. Wir aber sollten uns täuschen. Hitler ließ Norwegen und Dänemark besetzen und wer ahnte dies: Am 10. Mai ging der Feldzug gegen Frankreich los, darum die vielen Einberufungen. Der Emil Hitler brauchte Kanonenfutter. Natürlich blieb für uns kleine Leute vieles im Dunkeln. Wir, als frisch gebackene Verlobte, kosteten die Zeit bis zur Einberufung aus. Manchen Abend saßen wir in der Laube und sprachen über unserer gemeinsames Leben und was wohl werden würde. Hoffentlich ging alles bald vorüber. Wer ahnte aber, was in der Zukunft noch alles auf uns zukommen sollte. Unser Spruch war damals: „Der Herr ist unser Meister, er ist unser König und wird alles herrlich hinausführen.“ Wir aber haben es auf unser kleines Leben hin ausgelegt, auch wenn es heilsgeschichtlich auf das Evangelium von Jesus Christus hinführt. Wir aber hatten den Mut, uns mit einzuschließen. Im Rückblick auf unser beider Leben ist es tatsächlich zu der wunderbarsten Führung gekommen.
Also, der besagte 6.05.1940 kam heran, abends um 18.00 Uhr musste ich mich stellen und Lisa brachte mich ans Kasernentor. Punkt 18.00 Uhr überschritt ich die Grenze vom Zivilisten zum Soldaten. Es war ein tränenreicher Abschied, aber ich war ja in Hamburg und Ausgang würde es ja wohl auch geben.
Wir bekamen unsere Stuben zugewiesen. Es waren etwas über 100 Mann. Ein Oberfeldwebel hatte das Sagen und es wurde nach den Berufen gefragt. Noch waren wir in Zivil. Als die Reihe an mich kam, konnte ich doch nicht Diakonschüler sagen. Hätte man auch nicht verstanden und es wäre nur ein Lächeln auf der Strecke geblieben. So kam dann meine Antwort ganz kühn: "Schmalspur-Theologe". Immerhin wurde ich auch bei einem Kameradschaftsabend respektiert. Der Feldwebel verlangte, dass keine zweideutigen Witze vom Stapel gelassen werden. Erst einmal wurden wir eingekleidet. Dann kam die Grundausbildung auf dem Kasernenhof, immer noch mal. Erste Bedingung war, dass man vorschriftsmäßig grüßen konnte.
Gut vier Wochen waren wir eingesperrt. Zwischendurch besuchte mich Lisa, die mit dem Fahrrad kam. Der 10. Mai brachte den Angriff auf Frankreich mit der furchtbaren Bombardierung auf Rotterdam. Hitler musste der Welt zeigen, was er für ein Feldherr war. Seine Generäle brachten das Kunststück fertig, die unterirdische Maginotlinie zu knacken, am 22. Mai war der Feldzug beendet und Hitler ließ sich in Paris und Berlin triumphal feiern.
Wir aber befanden uns nun in der Ausbildung, wurden zu einem Kompanietrupp zusammengestellt. Mussten lernen, Leitungen zu verlegen und mit dem Feldfernsprecher umzugehen. Wir waren ein guter Trupp von Kameraden, mussten im Gebäude viel Strippen ziehen. Zwischendurch gab es auch Ausgang bis 24.00 Uhr abends. Hatte mein Fahrrad zur Kaserne mitgenommen und bin so manchen Abend zu meiner Braut geradelt.
Der Frankreichfeldzug war vorüber, aber was sollte wohl nun mit unserem Bataillon werden? Plötzlich kam der Befehl, dass der ganze Verein in Wandsbek verladen werden sollte, was dann mit allen Geräten auch geschah. Vorher gab es noch einen Abschied und dann ging es in die Güterwagen. Wohin? Von hintenherum hieß es: Munsterlager, zur weiteren Ausbildung, oder? Wir fuhren an Bergen und Munster vorbei. Immer weiter nach Osten, über Warschau bis in das Nest Groscheck, wo wir in eine polnische Kaserne klamen, der man den Namen "Hanseaten-Kaserne" gegeben hatte. Hier wurde zunächst die Ausbildung weiter betrieben. Das Gerücht verbreitete sich, wir sollten nach Rumänien, die Ölfelder bewachen. Aber es kam alles anders.
Zwischendurch war ich mal kurz in Warschau gewesen, hatte auf einer Brücke gestanden und in die Weichsel gespuckt.
Eines Tages bekamen ich und einige Kameraden einen heftigen Durchfall. Es blieb nicht einigen mit dem Durchfall, das ganze Bataillon wurde davon befallen. Schuld hatte der Koch, der ungekochtes Wasser in den Kaffee geschüttet hatte. Es wurde so schlimm, dass der Befehl kam, den ganzen Verein wieder zu verladen, und ab ging es. Aber wohin, war die bange Frage. Wir rollten und rollten gen Westen. Sollte es doch noch Munsterlager werden? Bei den Soldaten war es wegen seiner harten Ausbildung gefürchtet. Wir aber rollten an Bergen und Munster vorbei und, o Wunder, landeten wieder in Wandsbek. Da lud man dann in aller Eile aus und wir bezogen unsere alte Kaserne wieder. Für mich war dies ein Wunder. Warum so?
Natürlich ließen wir uns alle schnell einen Urlaubsschein geben und es wurde in der Familie Gabriel ein Wiedersehen gefeiert. Eintönig ging der Betrieb in der Kaserne dahin. Der Krieg mit Frankreich war beendet und was sollten die Soldaten nach ihrer Ausbildung in der Kaserne nun machen? Tag für Tag wurden etliche zu anderen Einheiten abkommandiert. Eines Nachmittags wurde mein Name von dem UvD - Unteroffizier vom Dienst - gerufen: "Wietholz, sofort zur Schreibstube." Was hat denn das zu bedeuten, war meine innerste Frage. In der Schreibstube führte dann der Spieß - Hauptfeldwebel - folgendes Gespräch mit mir: "Hier liegt ein Antrag vor vom Oberpfarrer Hunzinger, Hamburg. Sie sollen zur Kriegslazarettabteilung 446 zu einem Pfarrer versetzt werden." Was bedeute denn so etwas? Solche Versetzung ist dem Spieß wohl noch nicht unter die Hände gekommen. Seine Frage: "Was sollen sie denn tun?" Ich hatte auch keine Ahnung, aber beim Militär darf man sich keine Blöße geben. Also flugs kam meine Antwort: "Dem Pfarrer im Lazarett helfen und da sind bestimmt noch andere Dienste zu tun." Er, der Spieß, gab sich zufrieden. Sein Befehl war, dass ich in einer Stunde feldmarschmäßig auf der Schreibstube zu erscheinen habe, um die Papiere entgegenzunehmen. Melden auf der Feldkommandantur Brüssel und dort würde ich weitergeleitet. In Windeseile wurden die Sachen gepackt und sich dann von den Kameraden und der Einheit verabschiedet, die ich nie wiedersehen sollte.
Lisa befand sich im Abendroth-Haus als Wirtschaftsleiterin, hatte aber eine Entzündung am Fuß. Ein böses Geschwür. Auf einem Zimmer in diesem Haus waren wir beieinander und nahmen Abschied in der Hoffnung, dass ich bald wieder in Hamburg sein würde. Dass ich diese Reise machen musste, verdankte ich dem Oberpfarrer Hunzinger, der vom Rauhen Haus Adressen von Diakonen erfragte, die noch keine Feldpostnummern hatten. Von Brüssel wurde ich in ein kleines Dorf in Nordfrankreich geschickt und hatte mich beim Stab der Feldlazarettabteilung zu melden. Dieser schickte mich nach St. Pol, wo in einem größeren Gebäude die Lazarettabteilung untergebracht war. Man ließ mich auf einem Zimmer warten. In der Zwischenzeit war noch ein Diakon mit Namen Morlack eingetroffen. Später kamen zwei evangelische Pfarrer. Wir durften wählen. Ich entschied mich für den Pastor Werner, einen Schwaben aus Tübingen. Wir passten prima zusammen. Er war von unersättlichem Tatendrang. Wir hatten den Auftrag Truppenteile zu besuchen, Gottesdienst anzubieten und Gespräche mit den Offizieren zu führen.
Gut fand ich, dass wir auch Schriften christlichen Inhalts, die auf die Fragen des Menschen eingingen, Probleme des Alleinseins, von Frau und Familie, verteilten konnten. Eine Schrift ist mir noch gut in Erinnerung : "Thema Nr. 1" von Manfred Müller. Es war schon notwendig, diese Schriften zu verteilen, denn die Versuchung war groß, sich mit den jungen Französinnen einzulassen.
Einmal waren wir früh morgens bei einer Bäckerabteilung und mein Chef stand auf einem erhöhten Platz und sprach zu den Soldaten. Er, Pfarrer Werner, hatte eine gute Art, die Kumpels anzusprechen. Er war ja im Range eines Majors, war im 1. Weltkrieg schon dabei gewesen, hatte das Verwundetenabzeichen und das Eiserne Kreuz. Bei ihm war kein Hochmut zu finden. Manchmal beneidete er mich als einfachen Soldaten, man komme so noch besser an die Kameraden heran.
Unsere Abteilung saß auf den nicht ausgepackten Geräten. Wir hörten, dass wir eigentlich wohl bei der 5. Welle mit über den Kanal nach England hüpfen sollten. Wohl übte man am Kanal mit Booten, aber man gab es später auf. Unser Stab und die Kriegslazarettabteilung wurde nach Paris verlegt, wo wir in einem Krankenhaus eine Weile Dienst machten. Ganz plötzlich kam der Befehl: Ab nach Beauvais. Von der dortigen Kommandantur wurde uns eine Villa zugewiesen. Wir hätten das ganze Haus nehmen können, aber wir gaben uns mit der oberen Etage zufrieden, die alten Leute durften unten wohnen bleiben. Wir hatten ein gutes Verhältnis zu ihnen, wenn es ihnen auch schwer fiel. Die Franzosen hatten nämlich Freiburg ganz plötzlich bombardiert und dafür wurde Beauvais von den Deutschen in Schutt und Asche verwandelt. Nur die halbfertige Kathedrale und die Außenbezirke blieben bestehen. Hier wurde uns zur Einquartierung ein katholischer Kriegspfarrer, Pfarrer Winter, und sein Küster beigegeben. Den Namen des Küsters habe ich gut behalten, er war von Beruf schon Kaplan und hieß Gerhardi, ein ganz kluger Kopf. Er konnte mehr als sein Chef. Aber im Krieg verdreht die Rangordnung wohl oft manches.
Wir bekamen noch einen PKW und einen Fahrer mit Namen Röhrs, ein ganz patenter Kerl. Zum Fahren gab es Benzingutscheine und einen Ausweis und Fahrtenbuch. Wir mussten nachweisen, wohin wir fuhren und wie viel Sprit verbraucht wurde.
Wir haben den Feldgendarmen manchen Streich gespielt. Wer wollte es uns verbieten nach Paris zu fahren zu einer Besprechung beim Oberpfarrer Damrath. Dabei übernachteten wir in tollen Hotels für eine Nacht. Mein Chef, der die französische Sprache gut konnte, zeigte mir Paris, was ihm selbst Spaß machte. Wir aßen in guten Restaurants und tranken von den besten Weinen und ich lernte die Weinsorten kennen. Da mein Chef auch eine Familie hatte, wurden natürlich Stoffe und Wolle eingekauft. Alles wurde aber mit dem Sold, den wir Soldaten bekamen (in France) schön bezahlt. Da Pfarrer Werner wusste, dass ich verlobt war, machte er mir Mut, im Kaufhaus Lavalette für meine Braut alles, was eine Frau so braucht, Stoffe fürs Brautkleid, Unterwäsche, Strümpfe und Schuhe, zu kaufen und bald nach Hause zu schicken. Zu Hause gab es ja alles nur noch auf Marken. Natürlich war die Freude zu Hause groß, als im ich Urlaub mit einem großen Paket ankam. Nun wollen wir aber nicht von diesen angenehmen Dingen schwärmen, es gab auch viel Arbeit bei den einzelnen Kompanien, die im Lande verstreut waren. Tage vorher wurden Plakate mit der Ankündigung des Gottesdienstes ausgehängt. Tüchtig eingeladen werden musste schon. Mit dem katholischen Pfarrer wurde verhandelt, da wir zum Gottesdienst die Kirche brauchten. Von einer Gemeinsamkeit war nichts vorhanden. Nach dem Gottesdienst wurde der Geruch der Kerze mit Weihrauch wieder ausgetrieben. Natürlich hatten es die Priester schwer. Klein war die Gemeinde und sie musste ihren Pfarrer auch ernähren. Mancher Talar sah auch danach aus.
Von der Heeresleitung aus war es uns verboten, die Fliegerhorste zu besuchen. Der General Milch, dieser Heini, hatte jegliche Betreuung untersagt. Auch der Arbeitsdienst, der in unserer Nähe lag, durfte nicht besucht werden. Wir aber kehrten uns einen Dreck darum. Den Fliegerhorst fanden wir bei Meru und nahmen mit dem Kommandanten Kontakt auf. Gespräche wurden geführt und ein Gottesdienst gehalten. Es waren alles Piloten, zum Teil mit Ritterkreuz, die Einsätze nach England flogen. Die meisten von ihnen kamen bei gründlicher Abwehr durch die Engländer nicht wieder.
Bei der Arbeitsdienststelle herrschte eine ganz miese Moral. Schon ihre Lieder, wenn sie in Marschkolonnen durch die Gegend zogen, zeugten davon. Kamen sie ja meistens aus der Hitlerjugend und waren vollgepackt mit der NS-Idiologie. Das war der Wille dieser jungen Mannschaft. Im Lied kam es zum Ausdruck: "Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt. Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt." Da konnte man ja auf allerhand gefasst sein.
Nun, für die Zukunft dämmerte schon einiges. Weihnachten hatte ich Glück, Urlaub zu bekommen und konnte auch einiges mitbringen: Wein und etwas Schokolade, Wolle und Leinentuch. Das Fest wurde recht nett bei den Schwiegereltern gefeiert. Lisa und ich hatten ein paar Tage zusammen und dann war bald die Herrlichkeit dahin.
1941
Im Januar 1941 saßen wir in einem Soldatenkreis bei uns in der Wohnung in Beauvais. Außer Soldaten waren auch Offiziere dabei. Nach der Bibelarbeit ging das Gespräch so hin und her. Einer der Offiziere meinte, es gingen im Augenblick viele Transporte an die Ostgrenze. Wenn das nicht gegen Russland gerichtet sei. Ich erhob meine Stimme und sage: "Wenn das gegen Russland geht, ist der Krieg für uns verloren." Eine Frage von meinem Gegenüber: "Wer sind sie?" "Ich bin Diakon des Rauhen Hauses." "Sie meinten wohl Braunes Haus." So wurde das Rauhe Haus von christlichen Offizieren eingeschätzt. Vergessen konnte ich diesen Soldatenkreis nicht. Ob da wohl welche vom Widerstand dabei waren?
Der Alltag ging weiter. Wir besuchten die Truppenverbände, die noch in Frankreich lagen. In der Nähe war eine Fliegerkaserne, die wir mit unserem Besuch heimsuchten. Unser Radius der Fahrten war sehr groß. Eines Tages fuhren wir nach Verdun, um im Lazarett unseren Dienst zu tun. Es waren mehrere Säle mit Kranken belegt. In einer dieser Krankenstuben bat ein Kranker meinen Chef, den Kameraden mal ein reinigendes Wort zu sagen. Es gab unter so vielen Soldaten immer sogenannte Wichtigtuer, und hier war wohl einer, der sich durch sumpfige Witze hervortat. Nun, Pfarrer Werner brachte ein paar kräftige Sätze und die Sauerei war beendet. Mir gab er die Anweisung, den zweiten Saal zu betreuen. Mein Widerspruch: "So was habe ich noch nie gemacht", fruchtete nicht. Dann man los und das Herz fest in die Hand. Die Aufgabe war, von Bett zu Bett zu gehen und mit den Kranken zu sprechen und hie und da etwas zum Lesen dazulassen. Zuerst war es mir komisch, auch mit Offizieren zu sprechen. Aber mit der Zeit wuchs ich immer mehr mit den Aufgaben.
Auch Gottesdienste wurden hier in Verdun abgehalten. Mir kam oft der Gedanke, was wohl die Soldaten vom 1. Weltkrieg dazu gesagt hätten. Denn Verdun und das Fort France waren hart umkämpft gewesen. Wir besuchten auch die Schlachtfelder von 1914/18. Pfarrer Werner zeigte mir an der Somme die Stelle, wo Weihnachten 1914 sein Freund gefallen war. Der Heldenfriedhof am Doumont, mit allein 14.000 Gräbern, war ein trauriges Bild für den Beobachter. Oben auf der Höhe stand ein Denkmal als Ruhmeshalle für alle Regimenter, die hier siegesreich gekämpft und verblutet waren. Im Keller befand sich eine Gebeinkammer. Immer noch trugt man die gefundenen Gebeine hier zusammen. Ein mächtiger Haufen zusammengetragener französischer, amerikanischer, marokkanischer und deutscher Knochen, alles friedlich beieinander. Das Denkmal hatte einen Turm als Leuchtturm. Dieser war als Mahnmal an den furchtbaren Krieg gedacht. Noch kurz vor dem 2. Weltkrieg schworen hier ehemalige deutsche und französische Kriegsveteranen: "Nie wieder Krieg!" Welch eine Ironie! Wir besichtigten weiter aufgestellte Kriegsdenkmäler. Wir waren am Bajonettgraben, in dem verschüttete französische Soldaten aufrecht mit ihren Gewehren standen. Die Höhe "Toter Mann" wurde besichtigt, eine hart umkämpfte Höhe, die immer den Besitzer gewechselt hat.
Verschiedene Denkmäler gaben Auskunft über die Taten der Soldaten. Ein angeschlagener Löwe deutete an, bis hierher sind die Deutschen gekommen. Ein Denkmal, worauf mein Chef mich aufmerksam machte, war mit einem Holzverschlag versehen. Hier hatten die Nazis Geschichtsverfälschung getrieben. Dieses Mal erinnerte an alle Juden, die im 1. Weltkrieg für Deutschland gefallen waren. Schämen sollte die Bande der Nazis sich, Lügen zu verbreiten, die Juden wären ein verschlamptes Volk, was nicht fähig wäre zu kämpfen! Man musste ja die Geschichte verdrehen, damit sie ihrer Weltanschauung entsprach.
Der 22. Juni 1941 nahte heran, es war ein Sonntag und wir hielten an diesem heißen Sommertag in einem französischen Dorf bei einer Truppeneinheit Gottesdienst ab, als nach dem Gottesdienst die Nachricht durchkam, Hitler hätte tatsächlich den Angriff auf Russland gewagt. Dieser Idiot, er, der große Feldherr aller Zeiten. Na, was uns wohl nun noch alles erwarten würde. Erst einmal machten wir unseren Dienst weiter, auch wenn immer mehr Truppen aus Frankreich abgezogen wurden.
Zwischendurch besichtigten wir auch mal die Kathedrale in Amiens, ein herrlicher Bau, wohl eines der schönsten Bauwerke in Frankreich. Diese Kathedrale hatte irgend eine Beziehung zu der halbfertigen Kathedrale in Beauvais. Die Bauleute in Beauvais hatten den Ehrgeiz, ihre Kathedrale sollte höher werden als die in Amiens, nur hatte man nicht mit dem Untergrund gerechnet. Der war nicht tragfähig. So musste man im Bau mit dem Chor aufhören und so steht sie noch heute da. Oben auf dem Dach hatte man einen Turmreiter mit einer Glocke gesetzt, die einen silberhellen Klang hatte.
Weihnachten kam wieder heran und nochmals durfte ich in den Urlaub fahren. Es waren schöne Tage mit dem Beigeschmack, dass Mutter in einer Anstalt war, wo wir sie oft besuchten. Leider konnte sie in ihrem Zustand mit uns nicht viel anfangen.
1942
In der Zwischenzeit musste ein Wechsel geschehen. Bekam einen neuen Kriegspfarrer namens Tauber und wurde nach Charlesville beordert. Von der dortigen Feldkommandantur bekamen wir, mit einem katholischen Pfarrer und einem Küster, eine Villa zugewiesen. Der Küster hieß Franz Lammersdorf und kam auch aus Hamburg. Im Haus war ein Billardtisch, an dem wir uns in den freien Stunden vergnügten. Auch hier fuhren wir über Land, meistens ging mein Chef zu den Bauern und kaufte Butter, die dann an seine Familie mit 4 Töchtern verschickt wurde. Hier in Charleville wurden Gottesdienste gehalten, zu denen der General von Stülpnagel oft kam. Später bei dem Aufstand gegen Hitler hatte der sich mit einem Schuss aus seiner Pistole unglücklich verletzt, so dass er das Augenlicht einbüßte. Ich glaube, bei dem Aufstand ist er auch ums Leben gekommen.
Am 18. Januar 1942 trat Amerika in den Krieg, und man fing an, in Deutschland die Städte zu bombardieren. Dies war erst der Anfang, es sollte noch grausiger kommen. Der Verbrecher glaubt immer noch an seinen Sieg. Damit die Moral der Truppe nicht sinkt, wurden im Theater von Charleville Vorträge gehalten, wozu die vorhandenen Einheiten abkommandiert wurden.
Am 23.1.42 hatte man Kriegspfarrer Tauber ausersehen, über die Kriegsherren der deutschen Geschichte zu erzählen und den Gottesglauben der Soldaten. Es kamen viele, viele große Männer im Vortrag vor, nur einen hatte er nicht erwähnt - Hitler. Was mir natürlich unsagbar wohl tat. Abends bei einem Gespräch war mein Chef ganz unglücklich über seinen Fehler. Wahrscheinlich wurden ihm auch von den 150%igen Nazi-Offizieren Vorwürfe gemacht. Nun, ich habe ihn getröstet, er solle es nicht so tragisch nehmen. Vielmehr hat mich an dieser ganzen Vorstellung gestört, dass er als Pfarrer kein Bekenntnis zu Jesus Christus abgelegt hat, der unser aller Heil und Erlöser ist.
Versuche, in meiner freien Zeit Harmonium spielen zu lernen. Habe nur ein mäßiges Talent. Bei den Wehrmachtshelferinnen gabelt der Chef eine auf, die spielen kann. Ihr Name ist Fräulein Schäfer, mit der er auch in seiner freien Zeit herumzieht. Macht auf die Kameraden keinen guten Eindruck. Die sagen es mir auch. An einem Abend habe ich deshalb mit meinem Chef eine scharfe Aussprache. Er ist immer gleich "auf derPalme". Nun, von mir bekommt er zu hören: "Wir sollten keinen Anlass zu Ärgernissen geben." Auch sage ich ihm: "Stellen sie man den Offizier in den Schrank." "Will ich nicht gehört haben. Lasse sie versetzen", antwortet er. "Bitte, tun sie, was sie nicht lassen können", ist meine Reaktion. Die Soldaten haben es immerhin sehr schwer bei den Versuchungen durch die Frauen, die sich in solcher Zeit anbieten.
Als Reinemachefrau haben wir eine Französin, die unserem Kraftfahrer Georg eines Tages zum Fall wird. Aus diesem Verhältnis kommt es zu einer Schwangerschaft, die den Georg ins Gefängnis bringt, weil er die Frau zur Abtreibung nach Namur geschickt hatte. Auch hätte er sich mit einer "Feindin" eingelassen. Der Georg war ein schwieriger Mann, der auch über den Alten, wie er den Chef nannte, Stein und Bein schimpfte. Eines musste man dem "Alten" lassen, im Gefängnis hat er den Georg oft besucht.
Manchmal wurde der katholische Pfarrer zur Erschießung von Partisanen beordert. Später kamen ihre Frauen zu uns und ließen sich das Sterbekreuz von ihrem Mann aushändigen.
Plötzlich bekam ich einen inhaltsschweren Brief: Lisa berichtete von einer Vorladung bei der Gestapo in Hamburg. Es ging um ein Papier über die neue braune Kirche, die wohl gegründet werden soll. Eine geheime Sache, von der ich nicht nur wusste, sondern auch Papiere hatte. Lisa wurde nach allen Richtungen ausgefragt. Man wollte auch wissen, ob sie strenggläubig sei. Wir empfinden dies als eine große Not, was sich dort im Hintergrund aufbaut. Die Losung für den kommenden Tag war aus Jesaja 1,8: "Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir und will dich erretten", spricht der Herr und dazu die NT-Stelle aus 2. Thessalonicher 3,5.: "Der Herr aber richtet eure Herzen zu der Liebe Gottes und zu der Geduld Christi." Es ging uns oft so, dass manches Wort Gottes in unserer Einsamkeit ein Trost wurde, denn es kam für mich noch dicker. Eines Tages musste ich zur Feldkommandantur und wurde von einem Feldwebel, im Auftrage der Gestapo Hamburg, wegen dieser besagten Papiere (hatte ich vorher schnell vernichtet) verhört. Wurde nach vielem ausgefragt, konnte unbekümmert Antworten geben. Einmal wollte er wissen, ob es tatsächlich stimmt, dass Karl der Große in Verden an der Aller 4000 Sachsenführer hingerichtet habe. Es gibt da doch den Sachsenhain mit den 4.000 Steinen. Nun, ich konnte ihm sagen, dass es eine Fälschung ist und nach den echten Urkunden sollen es nur 4 gewesen sein. Unter Anderem ist Karl der Große als christlicher Kaiser nicht so blutrünstig gewesen, die besten Männer zu köpfen. Der Feldwebel gab sich anscheinend mit meinen Aussagen zufrieden. Was er nach Hamburg berichtet hat, entzieht sich meiner Kenntnis.
Wenigstens zu Ostern konnte ich mal wieder auf Urlaub fahren. Holte Lisa, die ja arbeiten musste, an der Bahn ab. Zur Abwechslung gab es auch Fliegeralarm, der schon mal öfter kommt. Es gibt ja bei einem Urlaub so vieles, was auch miteinander bewältigt werden muss. Dieser Verlobungszustand ist auch eine Belastung, weil man nicht weiß, wann können wir ans heiraten denken. Auch sind meine Magenbeschwerden oft sehr drückend. Hatte ja Magengeschwüre. Mutter gab mir oft aus dem Arzneischrank im Laden Hingfon-Tropfen. Diese halfen eine Weile. Abschied und die Rückfahrt waren unter diesen Umständen nicht einfach.
In Charleville hatte mich der Alltag wieder. Zwischendurch mache ich einen Filmvorführer-Kursus in Paris. Später hole ich Film und Apparat aus Bethel und führe den Bethelfilm mehrere Male vor. Da unser Kraftfahrer ausfiel und wir nicht von einem anderen abhängig sein wollten, lernte ich, unter Anleitung eines Kfz-Feldwebels in Charleville, das Autofahren. In einer Hinsicht schon gut, aber es hatte auch seine Nachteile. Zuerst ging ja alles gut und ich war stolz auf meine Fahrkunst. Wir hatten von der Kommandantur einen Peugeot zur Verfügung gestellt bekommen. Eines Tages wollten wir nach Verdun, um Gottesdienst zu halten. Auf der Fahrt saß mein Chef mit der Pistole in der Hand auf dem Beifahrersitz. "Nanu", sagte ich, "was soll denn das?" "Ja, wegen der Partisanen." "Was meinen sie wohl, was sie damit ausrichten können, nämlich nichts. Denn nur eine Salve auf das Auto, sie kommen nicht mehr zum Schuss, und wir sind hin." Die Fahrt ging, Gott sei Dank, ohne Überfall weiter. Nur, im Dorf mit Namen Inu baute ich meinen ersten Unfall. Hatte übersehen, dass die Dorfstraße von Lehm verschmiert war und kam in einer Kurve ins Schleudern und rammte mit dem Hinterteil vom Auto einen Mast. Kriegspfarrer Tauber flog hin und her, seine Mütze wurde ihm von Kopf gehauen. Es gab einen tollen Schreck, aber wir waren schnell wieder auf den Beinen. Schauten uns das Auto an, dies hatte einen größere Delle vom Pfahl, aber wir konnten unsere Fahrt fortsetzen.
Später musste der Chef zu einem Kriegspfarrer-Kursus, und ich sollte mit den anderen Kameraden mit der Waffe Dienst machen. Mir aber kam ein anderer Einfall, und ich ging zum Spieß, der uns gut gesonnen war und ließ mir einen Dienstausweis nach Deutschland ausstellen, um Schriften für unsere Arbeit zu besorgen und fuhr am 6. Mai 1942. Reiste nach Berlin, um dort einiges zu besorgen, dann Telegramm an Lisa: Komme kurz. Es war natürlich eitel Freude. In Hamburg ging es zu einigen christlichen Buchhandlungen. Bis zum Donnerstag blieb ich noch, und dann ging es nach Wuppertal zum Aussaatverlag. Dort kaufe ich einen Berg von Schriften von Paul le Seur ein. Alles wichtige Themen für die Soldatenseelsorge. Mit einem vollen Koffer landete ich in Charleville. In unserem Esszimmer auf dem großen Tisch hatte ich die Schriften ausgebreitet. Pfarrer Tauber sollte sich freuen über diese Ausbeute während seiner Abwesenheit. Er war aber sehr ungehalten und machte mir große Vorwürfe. Ja, er machte noch Meldung bei der Feldkommandantur und bekam ein Beschwerdeschreiben, welches er ausfüllte, wahrscheinlich wegen Entfernung von der Truppe, aber ich hatte ja den Dienstausweis von der F.K. bekommen, und so ist dann die ganze Sache versandet.
Die Schriften waren von den Deutschen Christen auf den Index gesetzt worden, was mich aber einen Dreck kehrte. Bezahlt haben wir vom Kohlekleingeld, was wir in reichen Maße besaßen.
Bei einem Urlaub bin ich im Rauhen Haus gewesen und habe mit dem Direktor über unsere Heirat gesprochen. "Aber Wietholz, wo denken sich hin, wenn alle Brüder kommen würden und um die Genehmigung zu bitten, was kann daraus werden? Denken sie an die Kinder und so. Nein, die Genehmigung zur Heirat können wir nicht geben, sie sind noch in der Ausbildung!" Von mir kam der Einwand: "Und das Ende des Krieges ist nicht abzusehen." Mit einem Achselzucken wurde ich entlassen. Wir aber, Lisa und ich, waren uns einig. Im September 1942 wird trotz allem geheiratet. Bei der Feldkommandantur wurde die Heirat eingereicht. Der besondere Tag sollte der 6. September 1942 sein. Papiere und alles, was darum schwebte, musste organisiert, das Aufgebot bestellt und die Trauung bei Pastor Schöppe, Martinskirche, angemeldet werden. Bei einer Kriegstrauung ging alles viel schneller. In Charleville organisierte ich Fleisch, Wein und Weintrauben. Voll bepackt mit einer "Dienstreise nach Rügen" im Gepäck kam ich dann in Hamburg an. Ja, Hochzeitmachen, das ist wunderschön ...! Lisa hatte mit den Eltern schon viel Arbeit geleistet. Einmal mussten die Heiratsanzeigen gedruckt und verschickt werden, bei der großen Sippe. Man hatte viel auf Lebensmittelmarken gespart und so konnten Torten und Kuchen hergestellt worden.
Dann kam der Gang zum Standesamt mit den Trauzeugen, Vati und Onkel Fritz. Am Sonntag, dem 6.9.1942 um 15.30 Uhr war die Trauung in der Martinskirche angesetzt. Man hatte Herrn Felsmann, der bei uns im Haus wohnte und ein Straßenbahnführer war, gebeten, eine Straßenbahn zu besorgen. Und tatsächlich konnte ein Motorwagen vom Horner Depot frei gemacht werden, der dann mit Blumen ausgeschmückt war und vor der Horner Landstr. 439 hielt. Das Brautpaar, geschmückt mit dem Pariser Brautkleid, und die Hochzeitsgäste ließen sich dann bis zur Pagenfelder Straße fahren und gingen das kleine Stück Weg zur Kirche zu Fuß.
In der Kirche hatten viele Gäste Platz genommen, sogar Bruder Frieß aus dem Rauhen Haus war gekommen. Ilse Friess und Juliane Jahnke streuten Blumen. Pastor Schöppe gab uns den Trauspruch aus Psalm 73 Vers 23 mit auf unseren neuen Lebensweg: "Dennoch bleibe ich stets an dir, denn du hältst mich an deiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich endlich in Ehren an." Als die Einsegnung vorüber war, wünschten uns viele Gottes Segen. Selbst Frau Schmidt, die Mutter von den Condorden aus Hoheluft, war gekommen. Mit der Straßenbahn fuhren wir zurück und dann wurden natürlich viele Aufnahmen gemacht. Dies war noch alles möglich in der Kriegszeit. Auch war die Wohnung für die Feier umgeräumt worden. Der große Ausziehtisch kam uns bei den vielen Gästen gut zustatten. Er reichte von dem einen großen Zimmer durch die Schiebetür bis ins andere Zimmer. Es wurde mächtig getafelt, alles war noch in Hülle und Fülle da. Ansprachen wurden gehalten und Wein aus Frankreich ausgeschenkt. Ich hatte mich längst meiner Uniform entledigt und hatte wieder einen Anzug an. Den hatte ich mir vorher in Charleville machen lassen. Schwägerin Emmi hatte für uns im Hotel Reichshof ein Zimmer bestellt, das wir bis 23.00 Uhr aufsuchen sollten. Aber die Feier zog sich immer wieder hin und wir wurden vom Hotel mehrere Male ermahnt, zu kommen. Als wir endlich im Hotel waren, hatte Lisa in der Aufregung die Hausschlüssel mitgenommen, die Emmi noch schnell holen musste, denn am anderen Morgen fuhren wir schon um 8.00 Uhr mit dem Zug nach Rügen in die Flitterwochen. Mein Dienstausweis machte es möglich. In Stralsund hatten wir einen kurzen Aufenthalt, und auf der Bank sitzend, wälztete Lisa ein Problem: Es ist ja nicht einfach, sich mit einem Male von den Eltern abzunabeln und sich in eine fremde Zukunft mit diesem Mann zu begeben, denn immerhin stand auf der Heiratsurkunde "Diakonschüler", bis auf den heutigen Tag. Die Bimmelbahn nach Binz kam, und die komischen Gedanken verflogen. In Binz hatten wir eine Pension gemietet. Die Besitzerin war sehr nett und hatte viel Verständnis für das junge Paar.
Nur 1 ½ Wochen hielten wir es aus. In der Zwischenzeit sind wir zum Kreidefelsen gewandert, haben gerudert und lernten auch noch Schach. Bei allem wurde es uns nicht langweilig, aber der 16. September nahte und da hatte mein Schwiegervater Geburtstag. Auch wollten wir in Hamburg noch einiges erledigen. Auf der Fahrt, in der Eisenbahn, nach Hamburg trafen wir in unserem Abteil die Mutter von Harald Reich, der bei uns in Hoheluft in der Concordia war. Bei dieser Gelegenheit eröffnete sie im Gespräch, dass seit einiger Zeit die Gestapo in Hoheluft herumschnüffele, um herauszubekommen, was dort getrieben worden ist. Immer musste einen die Gegenwart wieder einholen. Wir haben uns aber die nächsten Tage in Hamburg nicht miesmachen lassen. Feierten den Geburtstag und besuchten das Büro des Rauhen Hauses in der Stadt am Plan. Hier war ein Ausweichbüro errichtet worden. Pastor Dondorf war zur Zeit da. Wir wollten uns nur als frisch gebackenes Ehepaar vorstellen. Er gratulierte uns und empfahl, eine Lebensversicherung einzugehen. Wir aber waren bestens bei einem anderen versichert, der bis zur Stunde seine Hand über uns gehalten hat. Wir ließen uns die geschenkten Tage mit viel Besuchen bei Tanten und Onkeln gut ergehen.
Der Abschied kam viel zu schnell und ab ging es wieder nach Charleville in die Villa. Musste mich bei der Feldkommandantur zurückmelden und an die Kriegslazarettabteilung einen Schrieb schicken.
Hatte für unsere Insassen und den Chef Kuchen mitgebracht, damit noch ein kleiner Glanz aus der Vergangenheit in die Gegenwart fiel.
Langsam wurden uns die Nachrichten über die Siege oder siegesreichen Absetzbewegungen zu dumm. So kamen wir, der Franz und ich auf den Gedanken, eine andere Quelle anzuzapfen. In unserem Esszimmer stand ein Radio, das oft in Tätigkeit gesetzt wurde, denn man wollte wissen, wo die Fronten in Russnd standen. Der katholische Pfarrer hatte eine Landkarte und mit Nadeln und Flaggen die Fronten abgesteckt. Wir aber griffen zu einen anderen Mittel. Wenn die Kriegspfarrer ins Offizierskasino zum Essen gingen, haben wir den englischen Sender eingestellt und hörten ganz andere Nachrichten als die verlogenen Wehrmachtsberichte. Oft erfuhren wir auch viel früher, welche Städte man in Deutschland bombardiert hatte.
Bekam den Auftrag (vermutlich von der Kommandantur, mein Chef gab den Befehl weiter), Filme für das Soldatenkino in Charleville aus Paris zu holen. Hier hatte ich die Möglichkeit, so gut es ging, gute Filme mitzubringen. Auch hatte ich manchmal Zeit zu einen Bummel in Paris. In der Rue de Blanche besuchte ich die deutsche Gemeinde, über die ich so einiges wissen wollte.
Lisa hatte in Hamburg für uns in der Steinfurter Straße Nr. 32 bei Görlich ein Zimmer bekommen. Erst war es ein kleines Zimmer, später kam das große Zimmer in Frage, welches mit Möbeln ausgestattet wurde. So hatten wir im Urlaub unser kleines Zuhause, denn Karl Görlich und Frau, Besitzer der Wohnung, waren nicht anwesend. In den Kriegsjahren haben wir uns nie zu Gesicht bekommen.
1942 war für uns noch ein ruhiges Jahr. Ab und an half ich auch in der Suchzentrale für gefallene Soldaten. Es gab viel Arbeit, auch Ärger und manche Überraschung, weil man bekannte Kameraden wieder traf.
Der Weihnachtsurlaub wurde genommen und zu Hause noch fröhlich gefeiert. Keiner ahnte, was in der Zukunft Fürchterliches auf uns zukommen sollte. Erst einmal versuchte Hitler, mit der Rakete VI und II, England in die Knie zu zwingen, was aber nicht gelang. Diese Dinger hörten sich grausig an, wenn sie über uns wegflogen, aber sonst wurden sie, wenn sie über England waren, abgeschossen.
1943
Wieder bekam ich vom Rauhen Haus einen Brief mit dem abgedruckten Vortrag von Prof. Allhaus, der am 23.9.42 noch einen Vortrag über das Thema "Religion ohne Christus" im Hamburger Michel halten durfte. Diesen Vortrag fanden mein Chef und ich so gut, dass mein Vorschlag bei ihm Gehör fand, den Vortrag in einer Charleviller Druckerei drucken zu lassen. Unter großen Schwierigkeiten kam dann das Blatt in einigermaßen gutem Deutsch zustande. Auf Glanzpapier wurden Hunderte von Exemplare gedruckt und unter den Soldaten verteilt. Die Drucker hatten mich groß angesehen, als sie den Inhalt verstanden. Später hat sich bei der obersten Militärverwaltungs-Behörde in Paris die Gestapo eingeschaltet und wollte vom Oberpfarrer Damrath wissen, wo die Dinger herkommen. Mein Chef, Pfarrer Tauber, bekam plötzlich Bescheid, diese Vorträge verschwinden zu lassen. Mich bat er, die Verantwortung selbst zu tragen, und ich willigte ein. Ich nahm den letzten Haufen, es war nicht mehr viel übrig, und fuhr nach Namur in Belgien zu meinem ehemaligen Pfarrer Werner, der sie mit Freude übernahm.
Zwischendurch erfuhren wir, der Franz und ich, dass es an der Ostgrenze immer brenzliger wurde und im Januar für den größten Feldherrn aller Zeiten die Katastrophe hereinbrach.
Am 31. Januar 1943 kam die Wende bei Stalingrad. Die 6. Armee unter General Paulus hatte keine Existenzmöglichkeit mehr. Jetzt wurden Fehler über Fehler von dem Emil da oben gemacht und seine Speichellecker machten fröhlich mit und führten das Deutsche Volk ins Verderben. Wer mehr über die Soldaten der beiden Seiten wissen will, der lese das Buch von Peter Bamm "Die unsichtbare Flagge".
Über unser Radio hörten wir dann im Juli, dass viele Städte in Deutschland bombardiert worden seien, am schlimmsten am 27. Juli 1943 in Hamburg. Die Stadt sei in Schutt und Asche versunken. Mein Chef und ich ließen uns sofort Bombenurlaub geben, er für Kassel und ich für Hamburg. Ja, meine arme Vaterstadt erkannte ich nicht wieder. In der Horner Landstraße gab es nur zerstörte oder ausgebrannte Häuser. Oh Wunder, ein Haus, wenn auch Fenster und Türen kaputt waren, Nr. 439, war stehen geblieben. Dies war das einzige heile Haus bis zum Hauptbahnhof. Meine Angehörigen, und dabei war auch Lisa, räumten im Haus erst einmal tüchtig auf. Ich half natürlich mit, die Fenster mit Drahtglas dicht zu machen. Gegen Abend zogen wir nach Reinbek, waren da bei Tante Minna im Haus untergekommen. Hier mussten wir es, trotz der Enge, mehrere Tage aushalten, bis wir wieder zur Horner Landstraße zurück konnten. Die Engländer kamen nicht wieder. Durch Luftaufnahmen hatte man die totale Zerstörung festgestellt. Unser Zimmer in Görlichs Wohnung war total zerstört. Lisa hatte vor dem besagten Abend noch das Silber und meinen Anzug gerettet. Später barg sie noch aus dem Keller den Weihnachtsschmuck, der heil geblieben war. Als ich zum ersten Mal die Steinfurther Straße wieder sah, da brannten im nahegelegenem Kohlelager noch die Kohlen. Lisa gelang es später, mit ihrem Vater und der Behörde, einen Wohnraum zu bekommen, denn Familien mit großem Wohnraum mussten abgeben, wie bei uns im Haus Ehepaar Siemers in der 2. Etage. Sie gaben uns das mittlere große Zimmer nach hinten ab. Als Ausgebomte konnten wir über die Behörde Bezugsscheine erlangen und erwischten in Bergedorf Wohnraummöbel und in Billstedt ein billiges Schlafzimmer. Später kamen noch kleinere Möbel hinein und ein kleiner Herd zum Kochen. So hatten wir dann erst einmal unser kleines Reich für uns. Es wurde mit der Zeit immer besser ausgestattet. Ein Waschbecken kam noch dazu, so brauchten wir die Siemers nicht mehr belästigen.
Jetzt bekamen in Charleville einige Leute lange Gesichter, denn mit dem Endsieg wurde es nichts mehr. Wir hörten, dass der Stellvertreter des Führers mit dem Flugzeug in England gelandet sei und man ihn gefangen genommen hatte. Was los war, erfuhr man nur als Gerücht. Vielleicht sollte er den Engländern ein Angebot machen. Diese hüllen sich bis heute in Schweigen. Die Sache mit Heß sollte irgendwie mal öffentlich gemacht werden, aber wann ? Wäre vielleicht ein früheres Ende möglich gewesen?
Für uns gab es in der Soldatenbetreuung viel zu tun. Auch wurden die Soldaten immer mehr beunruhigt durch die Zerstörung der Städte und man wusste nichts mehr über seine Lieben.
Auch ging eine andere Sorge um: Ein General namens Unruh sorgte auch unter den Soldaten für Unruhe. Immer mehr Soldaten aus Frankreich, auch bei uns, wurden zum Osten abkommandiert. Bei der gefährlichen Lage an der Ostfront konnte man die Angst verstehen. Auch uns konnte es bei der F.K. passieren. Darum bat ich, bei der nächsten Beförderung von mir abzusehen, denn Obergefreiter genügte mir und das mir hierfür zustehende Geld konnten wir gut gebrauchen. Es bestand weniger Gefahr, bei dem Ausleseverfahren erwischt zu werden. Unser katholischer Kriegspfarrer hatte für sich das Motto: Der Sturm muss über uns hinwegbrausen, um möglichst beim letzten Bataillon zu sein, das nach Hause marschiert. Dies aber lag noch in weiter Ferne. Erst einmal wurde die Parole von einer Geheimwaffe unter die Soldaten gebracht und der Verderber befahl, den deutschen Gruß bei der Wehrmacht einzuführen. Unter den Kameraden ging der Witz um, wir haben die neue Geheimwaffe, nämlich man führt den Tubenkäse ein. Die Stimmung fing langsam an umzuschlagen. Die SS bekam immer mehr Einfluss unter den Offizieren. Stalin verkündet den "Vaterländischen Krieg", die Kirchen in Russland machten mit und stiften Geld. Langsam zeichnete sich am Horizont immer mehr eine Niederlage für dieses Lause-Deutschland ab.
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