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Thomas Illés erzählt in seinem Band31
aus seinem und seiner Frau jahrelangem Leben als Langzeitsegler unter mediteraner südlicher Sonne. Urlaub ohne Kofferschleppen auf dem eigenen Segelboot war sein Traum. Freud und Leid des Alltags in Marinas, auf Ankerplätzen und in Bootswerften in Tunesien, auf den Balearen und auf Sardinien, auf kurzen und längeren Segeltörns im westlichen Mittelmeer werden ausführlich geschildert.
Die Reiseberichte und Tipps des erfahrenen Skippers in diesem Band können allen, die von ähnlichen Träumen inspiriert sind, dazu verhelfen, die Realitäten besser einzuschätzen.
Band32in der gelben Buchreihe „Zeitzeugen des Alltags“
Kapitel Aus dem Inhalt:
51. Besuch in Rom
52. Arbatax Cagliari auf Sardinien
53. Maschinenschaden
54. Überwintern auf Sardinien
58. 59. Heimaturlaub in der Schweiz
60. Zurück nach Sardinien
63. Thereses Knie wird operiert
66. Auto-Ausflug ins Landesinnere von Sardinien
70. Überfahrt von Sardinien nach Mahón auf Menorca
71. Menorca und Alcudia auf Mallorca
72. Alcudia im Nordosten Mallorcas
74. Nordküste Mallorcas, Andraitx, nach Ibiza und Formentera
75. Balearen adieu! - Auf zur Costa Blanca!
76. Unter der spanischen Festlandküste Kurs Südwest
77. Überwintern in Aguadulce an der Costa del Sol
80. Andalusien
81. Überwinterungsalltag an der Costa del Sol
83. Christmas und feliz nuevo año unter südlicher Sonne
85. Überwinterungsalltag und belustigende Seglerkameradschaft
86. Ausflug nach Granada
88. Madridreise
91. Wieder auf See in Richtung Gibraltar und Portugal
93. Gibraltar
94. Um das Kap Trafalgar norwestwärts bis Höhe Cádiz
95. Am Grenzfluss Rio Guadiana zwischen Spanien und Portugal
99. Algarve - Vilamoura und Portimão
100. Kap St. Vincent in Portugal, einst „Ende der Welt"
Nun warten wir einmal mehr auf guten Wind. Zum Glück ist hier die Liegegebühr erstaunlich billig...
... und fast eine Woche später warten wir immer noch, mittlerweile nicht mehr allein. Seit ein paar Tagen liegt eine Santorin neben uns (das ist die größere jüngere Schwester von unserer Amel Sharki) mit einem französischen Paar; sie wollen auch nach Monastir, auf einer etwas anderen Route zwar, aber den vorherrschenden Südost können sie auch nicht brauchen. Das ist gut für die Stimmung, Therese erträgt die Warterei schlecht, da bekommt sie nun moralische Unterstützung. Der Franzose spricht übrigens recht gut Deutsch, so kann ich auch hie und da einige Worte wechseln; Therese bestreitet aber den Löwenanteil an Konversation. Heute Morgen sagte ihr der Nachbar, dass die Fischer gegen zehn einlaufen, meistens kann man da frischen Fisch kaufen. Sie ging also hin, kam bald mit einem Plastikeimer zurück. „Stell dir vor“, erzählte sie, „ich wollte zwei kaufen, das ging ihm aber überhaupt nicht in den Kopf. Zwei gäbe man doch dem Kind, ein bisschen mehr müsse ich schon nehmen, sagte der Fischer.“ – So wurden es acht Stück. Der Franzose hat ihr sofort erklärt, wie sie am besten zubereitet werden sollten, nämlich im Ofen, mit viel Olivenöl, Zwiebeln, Tomaten und etwas Weißwein, plus natürlich Salz und Pfeffer.
So viele Wetterberichte waren noch nie gespeichert im PC. Täglich zwei in Textform und drei Wetterkarten. Das Seegebiet, das wir nächstens befahren müssen, wird vom Deutschen Wetterdienst nicht sehr gut abgedeckt, die Fünftage-Windprognose erwähnt nur die angrenzenden Gebiete, südlich von Sardinien gibt es nur im Zweitägigen, so nehme ich jeweils beide auf. Die Wetterkarte ist vor allem wichtig wegen eventuellen Fronten, aber auch zum besseren Verständnis des ganzen. Therese hört dazu noch zweimal täglich den italienischen auf dem Seefunkkanal 68. Es gibt also genug zu tun – wir sind aber froh um die guten Windprognosen. Wir rechnen bis Pantelleria mit etwa vierzig Stunden, das vorwiegend unter Maschine wäre nicht gerade schön – aber stärkeren Wind genau auf die Nase könnten wir noch weniger brauchen, Sturm schon gar nicht. Wenn man mal draußen ist, muss man es nehmen, wie es kommt, da lohnt es sich schon, ein paar Tage, notfalls sogar ein, zwei Wochen zu warten. In der letzten Nacht hat es übrigens etwas geregnet, jetzt am Mittag gibt es kaum Wind und es ist sommerlich warm, neunundzwanzig Grad.
53. Maschinenschaden
Am Freitag war es soweit. Die Prognosen versprachen brauchbaren Wind, weit und breit keine Sturmgefahr, wir hatten eingekauft und vorgekocht und alles richtig verstaut, warme Klamotten für die Nacht bereitgelegt, den GPS programmiert – und einiges mehr. 16:58 Uhr, Maschine an, Leinen los. Nach dem ersten Waypoint außerhalb des Hafens Kurs 128 Grad Richtung Pantelleria, rund zweihundert Meilen, vierzig Stunden. Der Wind schien ideal zum segeln – und dann ging der Presslufthammer los im Maschinenraum. Oder das Maschinengewehr. Oder – solche Sachen gibt es da nicht – sonst irgendetwas was auf gar keinem Fall hätte sein dürfen. Was zum Teufel... Gas weg. Maschinenraumdeckel auf. Gucken, horchen. Wir sahen nichts Ungewöhnliches und konnten die Ursache dieses hämmernden, klopfenden Geräusches nicht identifizieren.
Scheiß drauf! Wir setzen die Segel, stellen die Maschine ab und fahren durch nach Monastir! - Den Gedanken habe ich genau so schnell verworfen wie er kam. Im Zweifelsfalle tue man das Richtige. „Wir kehren um und fahren zurück in den Hafen.“ Therese, die sonst gerne über alles diskutiert, sagte zwar nicht „Ay ay Sir!“ aber irgendetwas, was dem recht nahe kam. Wenigstens in Krisensituationen gilt mein Wort noch etwas auf diesem verdammten Kahn – nur zu gern hätte ich auf diese Ehre verzichtet.
Es war Freitagabend – nicht die Zeit also, wo Handwerker scharf auf Aufträge sind. Massimo, der nette, hilfsbereite Hafenmeister rief den Mecanico zwar Samstag früh an, er sagte nicht einmal nein, sondern vielleicht. Was allerdings nicht nur in der Sprache der Diplomaten nein bedeutet...
Sonntag pilgerten wir auf den Markt. Hier hocken und Trübsal blasen hätte wohl keinen Sinn gehabt. Der Besuch auf dem Markt erwies sich zwar auch nicht sehr sinnvoll, er liegt in einer recht öden Gegend und ist auch sonst nicht so toll, wir haben uns aber wenigstens etwas bewegt. Am Nachmittag nahmen wir Fifi aus dem Wasser und unterzogen ihn einer gründlichen Reinigung; nötig hatte er sie. Und ab Montag nahmen wir die zweithäufigste Tätigkeit der meisten Langzeitsegler auf: warten auf die Meister. Dienstagmorgen kam er kurz, entschuldigte sich, dass er nicht früher konnte, hörte sich unsere Klage an und versprach, um halb vier wiederzukommen. Wir sollen dann bereit zum Auslaufen sein, er wolle sich dieses Klopfen in Fahrt anhören.
Mit nur zehn Minuten Verspätung – italienischer Landesrekord – kamen sie sogar zur zweit. Der Kollege schien noch erfahrener. Rausfahren mussten wir gar nicht, das Klopfen war diesmal schon im Leerlauf nicht zu überhören. Sie demontierten den Deckel des Ventiltriebes und sagten, ich solle die Maschine starten. Wenn sie meinen – ohne sie hätte ich mich nie getraut, das ohne Deckel zu machen. Nach längerem Suchen, ich musste mehrmals starten, abstellen, etwas Gas geben, nahmen sie an, der Fehler müsse irgendwo im Zylinderkopf liegen, was genau, könne man aber erst feststellen wenn dieser demontiert sei. Morgen Nachmittag soll die Operation stattfinden.
Am Zylinderkopf ist so ziemlich alles angeschlossen, was an so einer Maschine überhaupt angeschlossen werden kann: Ansaugrohre für die Verbrennungsluft, Auspuffkrümmer, Kühlwasser, Dieselölleitungen zu und von den Einspritzdüsen. Die Demontage wäre also auch an einem Auto in der Werkstatt mit ziemlich viel Arbeit verbunden, im engen Maschinenraum einer Segelyacht, wo kein Flaschenzug vorhanden ist, man sogar kaum Platz für beide Füße zum Stehen hat, war es noch viel schwieriger. Therese versorgte Tonino mit Mineralwasser, Putzlumpen, Zeitungspapier und guten Worten, und am Ende eines langen Nachmittages schob er endlich einen Einkaufswagen voll Maschinenteile in Richtung seiner Werkstatt vom Steg.
Zwei Tage später kamen sie wieder zur zweit. Der Andere ist kein Kollege sondern der älteste Bruder, sechsundsiebzig Jahre alt, was wir ihm nie gegeben hätten, Tonino der jüngste, „nur“ achtundfünfzig. Es lag also nicht an jugendlicher Unerfahrenheit, dass sie im Zylinderkopf die eigentliche Ursache dieses hämmernden Geräusches nicht entdeckt hatten, der Kopf wäre wieder zusammengebaut, schadhafte Teile ersetzt. Nun soll die Maschine mit einem Kran rausgehoben werden, damit sie die im eingebauten Zustand nicht zugängliche Teile auch inspizieren können. Die Maschine zeige im Übrigen für eine neu revidierte sehr viele Verschleißerscheinungen. Ob uns Jean-Paul schlicht beschissen hat? Ob es am tunesischen Motorenöl lag, die wir ach so billig eingekauft haben? Schicksal? Pech?
Therese wird nun einmal mehr von Verarmungsängsten geplagt – und überlegt im gleichen Atemzug, ob wir nicht doch eine neue Maschine kaufen sollten. Ach, ist sie herrlich unlogisch, ich liebe sie!
23. Oktober; heute vor fünfundvierzig Jahren erhob sich das ungarische Volk gegen die Sowjetmacht. Es war ein schöner Herbsttag... Hier und jetzt ist es auch ein schöner Herbsttag, blauer Himmel, kaum Wind, wunderbare Fernsicht, wärmer sogar als damals in Budapest, kurze Hose und T-Shirt reichen noch. Noch – es könnte aber jeden Tag ändern, Herbststürme werden wahrscheinlicher und die Nächte ganz sicher länger, kälter, feuchter. Es sind die Tage, wo vernünftige Mittelmeersegler ihr Schiff definitiv für den Winter festmachen.
Der Zylinderkopf ist immer noch in der Werkstatt, der Rest der Maschine aber immer noch nicht. Sie ist zwar weitgehend für den Ausbau vorbereitet. Ihre elektrischen Eingeweide hängen aus der seitlichen Zugangsöffnung wie Organe eines schwerverletzten Science-Fiction-Wesens. Nun gilt es, auf das seltene Ereignis zu warten, wo der Mechaniker und der Kranführer gleichzeitig Zeit haben. Das zu koordinieren in einem Land, wo der Gebrauch von Uhr und Kalender nicht zum Lebensstil gehört, ist nicht ganz einfach.
Therese gibt in unregelmäßigen Abständen eine Art Italienischunterricht an Ginette und Philip, dem sympathischen englischen Seglerpaar, sie möchten, dass wir hier bleiben. Massimo bot uns von sich aus einen Platz an für die kommenden Monate. Kultur, Lebensart, Sprache, Umgangsformen sind uns tausend Meilen näher als die arabischen...
Hansjörg und Helen freuen sich schon auf das Wiedersehen in Monastir – wir auch. Einen Teil der Liegegebühr hatten wir dort schon bezahlt, ein zweites Mal können wir die Marinaleitung nicht auf nächstes Jahr vertrösten. Auch das Leben dort wäre billiger...
Wir überlegen hin und her. Falls wir einen Heimaturlaub machen würden, hätten wir wiederum von hier aus sicher bessere, verschiedene Möglichkeiten. Andererseits wären wir mit gutem Wind in zwei Tagen und Nächten in Monastir, es wäre eine schöne Strecke – wenn Neptun uns wohlgesinnt wäre.
Samstag gab es ein Fest vorne unter dem lustigen Zelt, das hier Büro, Clubgebäude und Aufenthaltsraum ersetzt. Es war gar nicht klar, wer eingeladen hat, das sieht man hier nicht so eng, es war aber ein schöner Abend. Mehr oder weniger integriert zu sein bei den Einheimischen – zumindest einheimischen Seglern – ist auch nicht zu verachten. Unsere Kontakte mit der tunesischen Bevölkerung haben sich strikt auf das rein Geschäftliche beschränkt und waren nicht immer erfreulich – die aufdringliche „Direktwerbung“, allgegenwärtige Unprofessionalität, die unverschämte „Kundinnensuche“ männlicher Prostituierter oder sonstiger Arschlöcher.
Beschluss: Wir bleiben hier!
54.
Rinaldo – so heißt der Schweizer Segler, den wir neulich an dem Fest kennengelernt haben – hat uns zu einem Bier eingeladen. Wir dürfen jederzeit kommen, er selber könne ab elf Uhr Bier trinken und wann es elf sei, das bestimme er, fügte er hinzu. Uns war das allerdings etwas zu früh, alkoholmäßig ist bei uns normalerweise erst gegen achtzehn Uhr „elf“.
Rinaldo ließ seine Delta 45 vor einundzwanzig Jahren in Taiwan bauen. Er selber sei sechs Monate auf der Werft gewesen, die Inneneinrichtung habe er selber geplant. Es ist ein schönes Schiff geworden. Im Laufe der Jahre hat er es mit ziemlich viel Elektronik nachgerüstet, zum Beispiel mit diversen Alarmanlagen. Alle Schranktürchen sind gesichert und ein Bewegungssensor sendet sogar einen Funksignal, den er im Umkreis von fünfzehn Kilometer empfangen könne. Ob das übertrieben oder gerechtfertigt ist, kommt wohl auf das Revier an. In der Karibik sollen sich Crews mit „wie geht es, seid ihr schon ausgeraubt worden?“, begrüßen – ob das stimmt oder Seemannsgarn ist, weiß ich nicht.
Nach der ausführlichen Schiffsbesichtigung gab es dann tatsächlich Bier, und wir haben uns auch sehr gut über Gott und die Welt unterhalten. Es ist schon eigenartig, selbst in einer Kleinstadt muss es doch mehr sympathische, interessante Menschen geben als in einem Hafen – man lernt sie aber fast nie kennen. Hier winkt man sich zumindest mal zu, sagt good morning oder buon giorno, wenn man in Hörweite ist und stellt sehr schnell fest, ob man sich auch mehr zu sagen hat. Rinaldo und wir hatten uns jedenfalls genug zu sagen, so sagte Therese, als es Essenszeit wurde, sie gehe jetzt Spaghetti kochen, wir sollen in einer halben Stunde nachkommen. „Jaaa – ich auch?“ fragte Rinaldo. „Aber selbstverständlich!“
Am nächsten Tag tranken wir wieder etwas bei ihm, aber am folgenden Tag lief er aus in Richtung Gibraltar. Er ist allein auf seiner Aenea II. Er setzte noch im Hafen zwei Vorsegel, und dann verschluckte ihn langsam der rote Abendhimmel.
Der Ausbau der Maschine wird von Tag zu Tag verschoben – zum Glück haben wir uns das nicht anders vorgestellt, so haben wir keinen Zeitdruck. Zuviel Wind... das ist ein verständlicher Grund, Schleppen mit einem relativ schwach motorisierten Schlauchboot geht nun mal nicht bei Winddruck. Heute war der Grund aber recht abenteuerlich, Tonino erzählte aufgeregt eine längere, wilde Story, die nicht nur ich, sondern auch Therese nicht verstand; es hatte mit einem blauen Fischerboot, Streik, Carabinieri, Radio und Fernsehen zu tun. Wie auch immer – der nächste Termin soll übermorgen Montag sein. Wir werden’s sehen.
Er kam dann tatsächlich und sagte, wir sollen uns bereitmachen, um vier werden wir abgeschleppt. Um vier? Es ist doch schon viertel ab. Typisch, die haben echt keine Ahnung von Uhrzeit, dachte ich – nur um zu merken, dass man sich nicht zu sehr auf liebgewordene Vorurteile verlassen soll. Wortreich wurde uns nämlich erklärt, dass es sowas wie Sommer- und Winterzeit gäbe... Ach so.
Das Schlauchboot war beinahe pünktlich da, bald waren wir an der Pier festgemacht. Ein Lastwagen mit Kran ging in Position, Tonino kroch in den Maschinenraum, irgendwann hing das teure Stück am Kranhaken, wurde millimeterweise herausgehoben. Ich hasse solche Manöver, sah schon den Motor abstürzen, ein Loch im Schiffsboden, Tonino blutüberströmt, alle rennen und schreien wild durcheinander, wenn sofort ein Taucher käme... aber nein, glug-glug-glug... Ich war also sehr erleichtert, als der Motor auf dem Lastwagen lag und ANEKI immer noch schwamm.
Das war aber erst die erste Halbzeit, das eigentliche Problem war das Anlegen wieder am Schwimmsteg. Beteiligt waren drei oder vier italienisch sprechende Marinaios, die sich nicht einigen konnten, welche die richtige Mooringleine wäre (und die, die sie schließlich gewählt hatten, lehnte ich entschieden ab, wusste aber nicht, wie man italienisch „fahr ab mit dem Scheißding, das ist doch Schwachsinn!“, sagt), ein Schwyzerdütsch und ein Französisch sprechender lieber Helfer am Steg, ein Schlauchboot, das uns schleppte und wir zwei. Gott schütze mich vor meinen Freunden, mit den Feinden werde ich selber fertig!
Wir waren noch nicht ganz fertig mit den Nachwehen des etwas chaotischen Anlegemanövers, als Philip mit der Mitteilung kam, das Geburtstagsfest beginne in einer halben Stunde, wir sollen also kommen. Das Geschenk war aber erst halb eingepackt und der Fruchtsalat, der unser Beitrag zum leiblichen Wohl der Gäste und Gastgeber werden sollte, noch gar nicht angefangen. So drohte das Fest zuerst in Fortsetzung der Hektik mit anderen Mitteln auszuarten, wurde aber dann ganz nett, mit Bergen von Essbarem und Konversation in Englisch und Italienisch. Die jüngere Tochter unserer neuen englischen Freunde wurde sechzehn, die ältere war vor einem Monat achtzehn. Wir kennen zwar nur die Eltern ein bisschen, aber auch die zwei Töchter scheinen ganz lieb zu sein, ohne Pubertätsallüren – ob es an der englischen Erziehung liegt, am Leben am Boot, Zufall oder doch nur meine Unkenntnis, wäre interessant zu erfahren. Das Fest konnte vor dem Geburtstagskind bis zum letzten Moment geheimgehalten werden, sie wurde mit verbundenen Augen in das Zelt, wo es stattfand, geführt und als sie dann den Aufwand sah, Grill, Salatbuffet, Gäste, soll sie Freudentränen in den Augen gehabt haben. Was in dem Alter vermutlich nicht unbedingt „cool“, dafür menschlich, sympathisch ist.
Für weitere Aufregung sorgen – zwar ohne ihr Zutun – die Behörden. Therese fragte Massimo, ob man etwas „Offizielles“ unternehmen solle – die Frau spricht einfach zu viele Sprachen und schwätzt zu gerne mit netten Menschen – und der sagte, das wäre ratsam, die Guardia di Finanza mache nämlich hie und da Kontrollen. Theoretisch dürften wir nur sechs Monate im EU-Raum bleiben, danach wäre die Mehrwertsteuer auf unser Bötchen fällig (was eher mehr wäre, als ein neuer Motor, den wir uns eigentlich nicht leisten könnten). Schiffe die vor 1985 gebaut wurden, sind zwar nicht Mehrwertsteuerpflichtig (unseres ist von 1981). Nein, das gelte nur für EU-Bürger, sagt ein anderes Gerücht. Es gibt zwar entsprechende EU-Richtlinien mit den dazugehörenden Vollzugsvorschriften – natürlich gibt es sie, wenn schon die über die Einfuhr von Karamellbonbons länger sind als das gesamte Römische Recht –, die aber in jedem Land, jedem Hafen, von jedem Beamten anders missverstanden werden. In einer Broschüre des Schweizer Yachtclubs heißt es, man solle auf seinem Drittlandstatus beharren, ohne zu erklären, was zum Teufel das ist und wie man italienisch beharrt. Ich, der das Vergnügen hatte, die Kindheit unter Hitler, die Jugendzeit unter Stalin verbracht zu haben – das ist sehr lehrreich –, sagte, man solle nie die Behörden auf sich aufmerksam machen. Therese, die gradlinige Schweizerin, hat für sowas aber kein Verständnis. Na gut. Streit bekamen wir erst, als ich das erste, bescheuerte Formular auszufüllen begann. Es ist immer das gleiche. Alle Menschen, die in einem halbwegs zivilisierten Land leben, verbringen einen nicht vernachlässigbaren Teil ihres Lebens mit Ausfüllen von Formularen. Warum zum Teufel kann dann nie jemand, der professionell mit dem Erstellen von Formularen befasst ist, diese Tätigkeit mit einem brauchbaren Ergebnis abschließen? Die Kolonnenüberschriften stimmen nicht mit den Kolonnen überein, es ist selten genug Platz für die verlangten Antworten (es sei denn, für Ja oder Nein, dafür stehen mindestens zehn Zentimeter zur Verfügung). Ich war also schon etwas geladen, als ich fragte, wo sie geboren wurde. Sie sagte, das gäbe es in der Schweiz nicht. Das hat mich definitiv an die Decke katapultiert: „Gopfrischtutz, wächst ihr Sonderfälle denn auf den Bäumen oder was?“ Da war sie natürlich beleidigt, wie kommt so ein hergelaufener Ungar dazu... (Zum Verständnis: In Schweizer Dokumenten wird der Geburtsort tatsächlich kaum je erwähnt, dafür gibt es den Begriff Heimatort, was wiederum in anderen Ländern unüblich ist. Tja, es gibt ihn schon, den Sonderfall...)
Der welsche Stegnachbar war inzwischen beim Hafenamt und berichtete, es sei alles nur halb so schlimm, man müsse nur ein Formular ausfüllen e basta.
55.
Wir wussten nur sehr ungefähr, wohin uns der Behördengang führen soll, und zwar auch im wörtlichen, geographischen Sinne. An dem von Massimo angegebenen Ort wurden wir von einem freundlichen Matrosen dahingehend aufgeklärt, dass da nur das Technische Departement wäre, wir müssen ganz ans andere Ende des riesigen Hafens pilgern – wo genau, konnte er nur ungefähr an unserem Stadtplan angeben, da der in jenem Bereich keine Straßen oder sonstige Details enthält. Der Welsche hat es zwar auch erklärt, wo er gewesen sei, sprach von Zolldirektion, zweiter Stock, da sollen zwei Beamte sitzen, die sich mit dieser Sache beschäftigen. Die zwei Wegbeschreibungen waren zwar nicht identisch, aber beide vage genug, um annehmen zu dürfen, dass es sich um den gleichen Ort handeln könnte. Also machten wir uns auf den Weg, zuerst mit Bus, dann zu Fuß. Nach längerem Suchen fanden wir tatsächlich ein größeres Gebäude mit der italienischen und der europäischen Flagge über und einem Schild Direzzione di Dogana oder so ähnlich neben dem Eingang. Na also; zweiter Stock. Viele Büros. Die Türschilder in Amtsitalienisch hätten allerdings genau so gut chinesisch sein können. So klopften wir an einer offenen Tür an und fragten den Beamten, wo wir hin sollen. Es hat eine Weile gedauert, bis er verstand, was wir wollten und sagte, hier wären wir total falsch, wir müssten vermutlich zur Capitaneria di Porto. Aha – und wo wäre die? Zum Glück kam ein weiterer Mann dazu – in Italien kommen immer Weitere dazu, wenn man irgendwo irgendwas fragt, manchmal diskutieren sie noch lange, nachdem der ursprüngliche Fragesteller schon weit weg ist – und bot es an, uns mit dem Auto hinzubringen, er müsse selber sowieso auch noch dort hin.
Es war ein ziemlicher Irrweg irgendwo am fernen Rand des Hafens, durch schmale, zum Teil unbefestigte Straßen, an diversen Gewerbebetrieben vorbei, durch Unterführungen und über Brücken. Das Gebäude war streng bewacht, wir mussten je einen Personalausweis abgeben. Innen gab es überall rote Rauchverbotsschilder in vier Sprachen und tatsächlich, nur ein kleiner Teil der Kunden und der Beamten hat geraucht; selbstverständlich unbehelligt. Bella Italia – man lebt und lässt leben.
Man verstand relativ schnell, weshalb wir hier sind und verlangte ein Schiffsdokument zwecks Erstellen einer Fotokopie, wie man uns sagte. Dann hätten wir noch unsere Namen angeben sollen, was erfahrungsgemäß bei Häfliger immer zu großen Problemen führt, weil kein Name in irgendeinem sonnigen Land mit H beginnt und Umlaute mit Pünktchen sowieso völlig unbekannt sind – es sei denn, der Schreibende sei mit der deutscher Sprache vertraut, dann wird aber oft vor dem g ein n eingefügt, wie es sich gehört, womit sie Haflinger statt Häfliger heißt, was wiederum eine Pferderasse und kein Schweizer Geschlecht ist. Aber wozu hatte ich dieses depperte Formular Crew List schon ausgefüllt? Ich überreichte also das vorbereitete Dokument, man nahm es entgegen – und das war es dann, wir durften wieder gehen. Weder haben wir selber irgendein Papier oder Stempel bekommen, noch wurden wir bezüglich zulässiger Aufenthaltsdauer oder sonst irgendetwas instruiert. Wir finden trotzdem, dass wir unsere Pflicht den Behörden gegenüber erfüllt haben – sollten wir denn besser wissen als sie, wie die korrekte Vorgehensweise wäre?
Unsere Generalreinigung im Hallenbad hat bestens funktioniert. Wir schwammen sogar ein paar Runden, wozu wir allerdings zuerst Badekappen – eher Kopfpariser, sie sind aus Gummi – kaufen mussten. Die ganze Übung kann in etwa einer Stunde abgewickelt werden. Danach aßen wir zur Abwechslung wieder mal selbstgebackenes Brot. Von der Temperatur her hätten wir zwar auch noch auf dem Steg „duschen“ können, es weht aber heute ein steifer Maestrale.
Gestern Abend gab es kleine, fritierte Fische. Die hat uns Tonino geschenkt, nachdem wir den Motor im „Spital“ besucht haben. Ein Pleuellager war geschmolzen, was den Verdacht nun von Jean-Paul doch eher in Richtung tunesisches Motorenöl verschiebt. Nun wird die Kurbelwelle überschliffen und ein Satz neuer Lagerschalen eingebaut. Wir werden ein richtiges Schmuckstückchen – gioiellino – bekommen, sagte Tonino. Ob er uns die Fische vorsorglich geschenkt hat, damit wir auch nach der Bezahlung seiner Rechnung nicht verhungern?
Nach dem Hallenbad habe ich den Riegel am Niedergang endlich repariert. Gewisse Sachen dauern unwahrscheinlich lange. Erst hat mich jahrelang geärgert, dass dieser Riegel immer wieder zu wackeln anfing. Alle ein, zwei Monate zog ich die Schrauben nach, bis ich irgendwann die Sinnlosigkeit solches Tun einsah und die vier Schrauben gegen größere ausgewechselt habe. Das Ding sitzt seitdem fest wie eine Tresortüre – nur passte plötzlich der Sperrbolzen nicht richtig in das Gegenstück. Ich konnte ihn zwar mit etwas Mühe schließen und öffnen, Therese aber fast nicht. Also musste ich, wenn wir irgendwo hin wollten, immer warten, bis sie draußen war, damit ich die „Haustür“ schließen konnte. Und beim Zurückkommen konnte ich ihr auch nicht den Vortritt lassen, wie ich es als Gentleman eigentlich tun sollte, weil die Dame mit ihren zarten Fingerchen nicht öffnen konnte. (Für die übliche Art, dass nämlich der Herr der Dame die Tür aufhält, fehlt auf einem Segelboot der Platz; nautische Kriterien haben Vorrang vor standesgemäßer Raumplanung.) Allein, es gibt ja unzählige Kleinigkeiten, worüber man sich ärgern könnte, und statt sich jedesmal zu überlegen, ob man nicht etwas verbessern könnte – meistens kann man nicht – vergisst man diese Sachen am besten sofort wieder. Was natürlich Verbesserungen dort, wo sie möglich wären, erstaunlich lange verhindern kann. Heute war es aber endlich soweit. Ich musste nur ein kleines Stückchen Alublech zuschneiden und unter diesem Bügel mit festschrauben. Was man natürlich zuerst erkennen muss, nicht jeder hätte gesehen, wieso das Scheißding klemmt, geschweige denn, Abhilfe konstruieren und anfertigen können; das muss ich bei aller Bescheidenheit doch festhalten.
Eine andere Ertüchtigungsmaßnahme mussten wir dem Lattenrost unter unserer Koje angedeihen lassen. Einige waren da etwas zu lang, so dass man eine Klappe darunter nicht ohne Mühe öffnen konnte. Da war ein etwas andersgearteter Verdrängungsmechanismus schuld daran, dass ich diese Latten erst nach etwa einem Jahr gekürzt habe. Diese Klappe öffnet praktisch immer nur Therese. Und weil es dort auch sonst eng und unbequem ist, stöhnt und murmelt sie grundsätzlich dabei – und für mich gehören solche Laute einfach zu den üblichen Nebengeräuschen des Bordlebens, wie das Quietschen der Fender, Stöhnen der Festmacherleinen, Klappern der Fallen, Heulen des Windes. Von Mal zu Mal sagte sie zwar, „man“ müsste doch endlich diese Latten..., ich sagte dann ja, ja, und wir legten das Thema wieder ad acta bis zum nächsten Mal. All zu häufig musste sie ja nicht in jenem Stauraum wühlen. Bis vor zwei Tagen; da sagte sie plötzlich, jetzt wäre eine wunderbare Gelegenheit, ein Stückchen abzusägen und blickte mich so erwartungsvoll-optimistisch an, dass ich mich unmöglich solcher Motivation entziehen konnte. Obwohl ich erst vor wenigen Tagen sechs Scharniere an zwei anderen Klappen ersetzt hatte, welche der salzfeuchten Luft zum Opfer fielen. Normalerweise führe ich nicht zwei so große Projekte in der gleichen Woche durch.
Der Winter ist normalerweise die Zeit, wo man nichts zu tun hat, außer auf längere, wärmere Tage zu warten – dachten wir, als wir noch Hausbewohner waren. Das real existierende Bordleben hat allerdings kaum Ähnlichkeit mit solchen naiven Wahnvorstellungen. Wir zum Beispiel pflegen jeweils im Herbst den Motor reparieren zu lassen. Obwohl – eine andere verbreitete Wahnvorstellung – Dieselmotoren ein Menschenleben lang problemlos ihre Arbeit tun. Ein Triebwerkwechsel an einem Flugzeug gilt aus Routinetätigkeit, und ein Passagierflugzeug am Boden kostet pro Minute tausend Franken. Deshalb sind Flugtriebwerke bestens für den schnellen Aus- und Einbau vorbereitet, alle Rohrleitungen mit Schnellkupplungen versehen, elektrische Kabel mit Multistecker, standardisierte Hebezeuge passen genau in entsprechende Beschläge. Da aber Yachtdiesel ewig laufen und Yachties unendlich viel Zeit haben, überlegt kein Konstrukteur, keine Werft, wie man einen Motorenaus- und Einbau vereinfachen könnte – im Gegenteil, man bekommt den Eindruck, dass Spezialisten eigens dafür eingesetzt werden, alles so unzugänglich, unübersichtlich und unpraktisch zu gestalten wie technisch gerade noch machbar. Dementsprechend dauert der Triebwerkwechsel an einer Segelyacht nicht anderthalb Stunden sondern anderthalb Monate. Obwohl die Maschine einiges von dieser Zeit in der Werkstatt verbringt, gibt es auch auf dem Schiff immer wieder etwas zu tun. Der Mechaniker kommt unverhofft vorbei, um irgendwelche vergessene oder verlorene Teile im Maschinenraum zu suchen. Bei eingebautem Motor müssen unzugängliche Stellen gereinigt werden. Und wenn die reparierte Maschine irgendwann wieder eingebaut ist, muss sie möglichst subito etwa zwanzig Stunden laufen und der erste Ölwechsel gemacht werden.
Kaum war dies alles erledigt letzten Winter, fingen schon die Elektriker ihr Unwesen zu treiben an, was zur Folge hatte, dass wir unsere tolle Kuchenbude gar nicht aufgestellt hatten. Wozu haben wir dann aber das teure Ding, stellte mein Täubchen die rhetorische Frage und erteilte umgehend den Befehl, sie wird sofort aufgestellt. „Wir haben das ja in einer halben Stunde wieder, wenn der Motor kommt“, ergänzte sie tröstend. Also machten wir uns ans Werk. Schon das Ausgraben der Bestandteile brauchte mehr als eine halbe Stunde, aber bezüglich Zeitangaben sind wir schon weitgehend im Mittelmeerraum assimiliert. Dann wurde es aber ernst.
Am hinteren Ende des Cockpits steht unser Besanmast. Um ihn herum kommen von oben Achterstag, zwei Schoten, zwei Falle. Seitlich sind zwei Genuaschoten, die Reffleine der Rollgenua, Landstrom- und Antennenkabel, die Leine der Baumbremse. Man stelle sich einen jungen Wald vor mit viel Unterholz, und da soll nun ein Zelt aufgestellt werden, ohne dass ein Ästchen gekrümmt wird. Dazu kommt, dass einige Arbeitsgänge nur Therese, andere nur ich kann, wieder andere gingen am besten zu zweit, nur kann keiner von uns genau sagen, was der oder die andere soll.
Als Beweis unserer menschlichen und handwerklichen Qualitäten, unserer gegenseitigen Achtung und Liebe, steht seit gestern als Monument für all dies die Kuchenbude! Und da es seit gestern immer wieder von der „falschen“ Seite, nämlich von hinten, regnet, sind wir auch sehr froh darum. Es ist nämlich sehr lästig, wenn der Wind den Regen direkt in die gute Stube peitscht, sobald wir den Niedergang nur einen spaltbreit öffnen. Dafür nehmen wir sogar in Kauf, dass wir unsere Behausung nun nur auf dem Hintern oder den Knien rutschend betreten und verlassen können. Das Ausleeren eines Beckens mit Spülwasser und Fischabfällen – Therese hat soeben fünf Knurrhähne filetiert – ist dabei schon hohe Schule. (Knurrhähne sind weder männliche Vögel noch knurren sie – in Kochbüchern oder Brehms respektive Grzimeks Tierleben suche man unter Fische.)
56.
Seit Stunden verfolgt der Mörder Comissario Aurelio Zen durch die unwegsame Buschlandschaft in den Sardischen Bergen mit einer Schrotflinte. Wird er durch ein Wunder doch noch gerettet oder wird er erschossen? Die Spannung steigt – und wird dann plötzlich real. Es ist kein sardischer Bandit, der draußen steht, nur der Wind hat Sturmstärke erreicht, und ein recht unsanfter Stoss legt es uns nahe, unsere friedliche Tätigkeit – ich lese Therese nach dem Nachtessen vor – zu unterbrechen. Wir eilen hinaus. ANEKI liegt total blödsinnig quer in der Landschaft. Der Wind hat ihr Heck bis zum Steg nach hinten gedrückt und der Bug stösst unsanft gegen das Nachbarschiff, das eigentlich gar nicht direkt neben uns, sondern einen Platz weiter an Steuerbord liegt. Therese hängt Fender ans Heck, ich versuche einen zwischen ANEKI und dem Nachbarn reinzuquetschen. Dann holt sie Bootshaken und Handschuhe, und wir angeln eine weitere Mooringleine, die zwar eigentlich für einen eventuellen Nachbarlieger gedacht wäre, aber in dieser Nacht kommt bestimmt keiner. Inzwischen kommen zwei französische Stegnachbarn zum Helfen, aber auch zu Dritt können wir diese Mooring nicht soweit holen, dass wir sie belegen könnten. Da hat einer eine gute Idee: Wir legen im Luv eine Leine zum anderen Nachbar, der Motoryacht, mit deren Hilfe wir endlich den Bug von dem Segler im Lee wegziehen können. Mittlerweile sind auch Massimo und sein Vater da. Nach einer Weile Hektik liegt ANEKI einigermaßen wieder richtig. Beide Moorings sind belegt und außer der Leine zur Motoryacht haben Massimo und Vater noch eine zum Segler angebracht. So werden die Kräfte je nach Richtung der einfallenden Böen besser verteilt, und die Sicherheitsabstände bleiben eher erhalten. Wir sind sehr froh über die prompte Hilfe. Während sich Therese in allen Sprachen bedankt, bemerkt sie plötzlich, dass das Schlauchboot am Vordeck der Motoryacht versucht, sich in eine Flugmaschine zu verwandeln. Wir nehmen an, dass dies nicht eigentlich erwünscht sein dürfte und gehen mit einer Leine rüber, um es festzuzurren. Unser Fifi liegt immer noch am Steg draußen, wir binden auch ihn noch fest. Danach wird die Vorlesung bis spät in die Nacht fortgesetzt, bis Aurelio Zen wohlbehalten wieder in Rom ist und wir annehmen können, dass auch ANEKI nichts Böses zustossen wird. Gut schlafen wir trotzdem nicht gerade in dieser Nacht und stehen auch ungewöhnlich früh auf. Der Wind hat inzwischen gedreht. Wir bringen über Kreuz zwei zusätzliche Heckleinen aus für alle Fälle. Gemäß Wetterbericht liegt ein kräftiges Tief über Algerien, bewegt sich langsam zu den Balearen und dann nach Sardinien. Dass es von der Sahara herkommt, ist nicht zu übersehen: Einmal mehr ist alles mit einer dicken Schicht roten Sandes überzogen.
Ein paar Tage später zeigte das Wetter wieder sein Mittelmeerreiseprospektgesicht: fast windstill, tiefblauer Himmel mit wenigen, malerischen Wölklein und an der Sonne zu warm für mehr als ein T-Shirt. Wer nur diese Variante kennt, kann es sich nicht vorstellen, dass hier Stürme in Orkanstärke durchaus üblich sind. Zum Glück zog das Schlimmste nicht hier durch. In einigen anderen Häfen hier in der Umgebung sollen trotzdem ziemlich Schäden entstanden sein. Wenn die Wellen über die wohl etwas zu niedrige Mole rollen, entsteht im Nu ein infernalischer Hexenkessel. Wir bekamen sogar etwas Regen, der einen Teil des Sandes aus dem Rigg gespült hat. Deck und Reling hatten wir vorher schon einigermaßen abgespritzt.
Als Nebenprodukt von Thereses thailändischen Abend aßen wir zweimal hintereinander eine Suppe aus meiner kreativen Küche. Das erste Mal sagte mein Täubchen, sie wäre nicht schlecht, nur habe es zu viele grüne Erbsen drin. „Aber es ist doch eine Erbsensuppe mit Linsen und Lamm“, sagte ich und siehe da, am zweiten Abend fand sie sie wunderbar. Man hat einfach mehr davon mit dem nötigen Hintergrundwissen; meint man, eine Linsensuppe mit Lammfleisch zu essen, kann man die grünen Kügelchen tatsächlich als nicht eigentlich dazugehörend empfinden; wenn man hingegen seine Sinne auf Erbsensuppe einstellt... Der thailändische Abend spielte allerdings in einer wesentlich höheren kulinarischen Liga. Zuerst gab es eine delikat-exotisch gewürzte Suppe mit Pouletfleisch und Pilzen, danach Lammfleisch mit Tomaten- und Peperoniwürfelchen, Kokosmilch und... geplant war noch, dass sie ein Kimono oder Sari oder sonst was ähnliches anzieht und rote Schummerbeleuchtung installiert, irgendwie hat sie aber, mit dem Erstellen von sogar zwei exotischen Gerichten unter Bordbedingungen, doch hart an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit operiert und vergaß sowohl diese ergänzenden infrastrukturellen Maßnahmen als auch die Zugabe der Erbsen. Was natürlich einerseits trotzdem nicht passiert wäre, wenn sie das Unwetter draußen nicht zusätzlich abgelenkt hätte und mir andererseits genug Erbsen übrigließ für meine Suppe.
Heute war dann, wie gesagt, Bilderbuchwetter – aber glaube nicht, dass man das an Bord der ANEKI gebührend genießen durfte; nicht bei dieser Chefin. Zuerst musste ich wieder sinnlos hin und her schwimmen im Hallenbad, und dann wurde noch angeordnet, Genua und Besansegel abzuschlagen und zu verstauen. Bis das alles fertig war, ging die Sonne, die vielleicht das letzte mal in diesem Jahr nicht nur Licht, sondern auch spürbare Wärme spendete, unter; es blieb gerade noch Zeit für ein bisschen Backgammon, wobei sie von drei Spielen auch zwei gewann. Ach, ist das Leben hart und ungerecht!
Es ist schon ein verdammt blödes Gefühl, wenn man inzwischen mehr als fünfundsechzig Jahre auf dieser Welt verbracht und viele Erfahrungen gesammelt hat, gute und bitterböse, Hitler, Stalin, Weltkrieg, Revolution, Flucht, Liebe, Hass, Tausende Bücher gelesen, Tausende Menschen kennengelernt – und dann kommt so ein hergelaufener belgischer Ex-Mechaniker und schlitzohriger Kaufmann und manipuliert und verarscht einen wie ein Baby! Meinen technischen Verstand nebelt er mit völlig logisch Klingendem ein, und Thereses Instinkt überfährt er mit unverschämter Einschüchterung; und ehe wir es merken, hat er unsere Million und wir seinen alten Schrotthaufen „so gut wie neu“. Tonino, der hiesige mecanico war zuerst sehr zurückhaltend, was die mögliche Ursache anbelangt, verstärkte lebhaft und vehement, wie es nur Italiener können, meinen Verdacht, es läge am tunesischen Motorenöl – klaro, heutzutage sind ja an Allem die Araber schuld, früher waren es die Juden –, wollte lange Zeit nicht den unbekannten Kollegen in Palma beschuldigen, bis er nicht mehr anders konnte. Es deutet einfach zu Vieles darauf hin, dass wir zwar einen reparierten, aber nie einen total revidierten Motor bekamen. Kann man da wirklich nichts machen?
Wir entschieden uns, einen Brief an Perkins, den Hersteller, zu schreiben und eine Kopie an das Schlitzohr in Palma. Wir schilderten kurz die Geschichte unserer „generalüberholten“ Maschine und den gravierendsten Teil dessen, was bei der Zerlegung zum Vorschein kam und stellten am Schluss die Fragen, ob dies die übliche Vorgehensweise einer autorisierten Perkins-Vertretung, der übliche Zustand eines revidierten Perkins-Diesels nach lächerlichen 163 Betriebsstunden sei – und wer für all dies eigentlich aufzukommen habe?
Vielleicht wird die Antwort heißen, da wäre etwas total falsch gelaufen, es tue ihnen furchtbar leid, selbstverständlich sollen wir ihnen die Rechnung schicken. Oder aber wird alles abgestritten, wir hätten diese tolle Maschine zu Schrott gefahren – falsches Öl, falsche Handhabung – und sollten wir nicht diese unhaltbaren Behauptungen zurückziehen, haben wir eine Verleumdungsklage zu gewärtigen. Beide Extreme sind unwahrscheinlich – wir sind gespannt auf die wirklichen Antworten, die da kommen mögen.
Zunächst kam nur Tonino, um im Maschinenraum irgendwelche Anschlüsse zu kontrollieren. Die Maschine sei nun bald bereit zum Einbauen, gestern hätten sie bis Mitternacht daran gearbeitet – hoffentlich verrechnet er nicht noch Überzeit- und Nachtschichtzuschlag. Kaum war er gegangen, kam Philip und fragte, höflich wie die Engländer halt sind, ob er kommen dürfe. Obwohl wir schon ziemlich Hunger hatten, konnten wir ihm doch nicht nein sagen, also ging er seine CD holen, und ich startete den PC. Seit Tagen bemüht er sich erfolglos, eine Verständigung zwischen seinem neuen Telefonino und seinem Minicomputer herbeizuführen. Da er aber kein CD-Laufwerk hat, versuchen wir bei uns, die fehlenden Infos seiner CD zu entlocken. Ebenfalls erfolglos. Dieser war nun schon unser dritter oder vierter Versuch. Die magische Zahl oder das magische Wort blieb zwar weiterhin verborgen, ich habe jetzt aber auf meinem Windows-Bildschirm ein neues Symbol, „blu connection manager“, das zwar nichts bewirkt, weil ich ja weder Modem noch Telefonanschluss am PC habe, es sich aber mit keinem Mittel eliminieren lässt. Ich las unzählige Informationen in der Hilfedatei, ich hätte auch etliche Programme, die ich weiterhin brauche, löschen können, nicht aber dieses verdammte blu-Symbol. Im Gegenteil, plötzlich hatte ich zwei, dann drei! Die „Kinder“ ließen sich zwar allerdings wieder entfernen – das hätte mir noch gefehlt, dass die sich auch noch vermehren! – der Urvater ist aber unzerstörbar.
Philip erzählte, er habe nun eine Gratis-Telefonnummer von blu ausfindig gemacht. Eine halbe Stunde sprach er mit ihnen, sogar Englisch, erfahren hat er aber nichts Brauchbares. Das Gespräch wurde durch die normale Routinetätigkeit seiner Töchter auch nicht gerade erleichtert. Zuerst machen sie irgendwelche Turnübungen, die nur mit Begleitung durch eine Art Musik durchführbar sind – wir hatten den Eindruck, dass es sich nicht um Philips Lieblingsmusik handeln dürfte – und dann müssen noch die Haare gefönt werden. Der arme Philip schien ziemlich am Ende seiner psychischen Tragfähigkeit zu sein – zwei Töchter und ein Computer schaffen allerdings auch den stärksten Mann spielend. Nun wollte er wieder mal ins Internet-Café; wir sind gespannt auf die Fortsetzung dieser Story.
Stunde um Stunde sind wir allein hier. Therese näht am neuen Kleidli für Fifi, ich schreibe; wir lesen; sie geht einkaufen und ich spüle das Geschirr. Wenn aber jemand kommt, selten allein. Während Therese mit Tonino italienisch konferiert, versuchen Philip und ich englisch Verständigung zwischen uns und unserer beiden Computern herbeizuführen. „Try this with the right hand button“, sagt Philip und Therese, „du Thomas, Tonino fragt ob du...“ – ich brauche dringend eine Vorzimmerdame! Statt Fifi anständig ganz auf die Seite zu schieben, damit man auf dem schmalen Steg noch irgendwie verkehren könne, würden wir sie querstellen, sie säße darin und... „yes, Philip, you may come at three thirty...“ - „no, Tonino, per il momento il capitano é occupato...“ Das ist aber irgendwie nicht so üblich hier, also passiert entweder nichts oder alles gleichzeitig – aber wenigstens erzählen kann ich es der Reihe nach.
Also, zuerst kam Philip. Es war schon die vierte oder fünfte Sitzung in dieser Angelegenheit. Einmal mehr installierte ich seine Kommunikationssoftware auf meinem PC – zum Glück inzwischen eine andere, die sich auch wieder löschen lässt – und plötzlich, nach unzähligen erfolglosen versuchen, fingen die beiden Computer miteinander zu reden an, unzählige Papierchen flatterten von meinem zu seinem, zumindest auf dem Bildschirm. Und nachdem fertiggeflattert war, drückte Philip mit zitterndem Finger ein paar Knöpfe und brach im Jubel aus, zumindest soweit als es für ihn als wohlerzogenem British gentleman überhaupt möglich war. Sein E-Mail schien tatsächlich zu funktionieren – ich gönne es ihm und auch mir von Herzen. Das dauerte natürlich wesentlich länger, als es diese paar Sätze ahnen lassen, und die Konferenz mit Tonino war mittlerweile in vollem Gang.
Toninos Art zu kommunizieren ist nun ziemlich das Gegenteil des vornehmen britischen Gemurmels, und Therese ist bemerkenswert weitgehend in diesem temperamentsprudelnden Land assimiliert. Es war mir also als des Italienischen nicht mächtigen Zeugen weitestgehend klar, dass die zwei im Cockpit inzwischen alle Probleme dieser Welt gelöst haben oder aber der Ausbruch des dritten Weltkrieges unmittelbar bevorsteht. Philip sagte auch, „maybe it’s better I leave you know“ und so konnte ich einen ersten Versuch starten, mich über den Inhalt dessen, was zweifelsohne als die Konferenz von Cagliari in die Weltgeschichte eingehen wird, zu informieren. Also, kurz das Wesentliche:
Bevor wir unseren Heimaturlaub antreten, wollen wir ANEKI aus dem Wasser nehmen lassen. So kann sie im Unterwasserbereich richtig austrocknen, bevor der neue Antifouling aufgebracht wird, ohne dass wir wochenlang „hoch und trocken“ wohnen müssten. Nun erging der Beschluss, dass auch der Motor erst an Land eingebaut werden soll. Das gehe wesentlich besser, die genaue Ausrichtung auf die Propellerwelle könne auch überprüft, die Stopfbuchse in aller Ruhe neu bepackt werden. Ich finde dies auch eine wirklich gute Idee – wir feierten sie mit je einem Glas Whiskey. Tonino spricht nun von uns definitiv nicht als Kunden, sondern als Freunde. Wir sind etwas ratlos, wissen nicht recht, wie dies zu verstehen, zu werten sei. Ich sagte Therese, in der Schweiz hätte ich auch etwa dreißig Jahre gebraucht, bis ich die Mentalität, die unzähligen ungeschriebenen Gesetze und Regeln, die Bedeutung dieser und jener Redensart einigermaßen erfasst habe. Ungarn, Schweiz, Italien, diese drei Länder liegen doch so nahe beieinander, alle sind Erben der gleichen griechisch-römischen und christlichen Kultur, man schätzt die gleichen Künstler, ähnliche Wurstwaren und Getränke – und doch sind es Welten für sich.
Unser Freund Tonino will uns gelegentlich auch zu einem anderen Freund zum Essen einladen. Wir zwei würden ganz allein ein Spanferkel verspeisen, Therese bekomme Fisch – ich bin gespannt.
57.
Wir haben einige neue Nachbarn. Die ersten kamen zuerst zu Fuß, um zu rekognoszieren, ob sie ihr Boot hierhin verholen sollen. Er sei Amerikaner, sie Australierin, beide sympathisch. Dann, es war schon fast dunkel, kam ein Segler mit Schweizerflagge. Bald darauf hatten wir keinen Strom. „Immer der gleiche Mist“, schimpfte mein Täubchen, „sobald mehr Boote kommen...“ – den Rest verstand ich nicht mehr, sie war inzwischen draußen. Ich schaltete den Kühlschrank auf Inverter um, löschte alle Lichter bis auf eines, schaltete auch den Heizlüfter aus und setzte mich mit meinem Buch an eine Stelle wo ich etwas Licht zum Lesen hatte und auch das Kontrollämpchen für Landstrom im Auge behalten konnte. Ich hörte Therese draußen mit verschiedenen Leuten schwätzen, plötzlich gab es Strom, also alles umschalten, dann fiel er wieder aus – so hat man zwar immer zu tun, ich fand es trotzdem langsam langweilig. Diesmal dauerte es länger, dann kam er aber wieder, ein paar Minuten später auch Therese und verkündete wie eine Sensation, dass es nun eigentlich funktionieren müsse. „Was du nicht sagst – was meinst du, wozu ich dieses Kontrollämpchen montiert habe? Was war eigentlich los?“ - „Ach, der Engländer da vorne. Immer wenn er etwas eingeschaltet hat, jagte es die Sicherung raus. Massimo sagte ihm gleich, diese britischen Stecker machen immer Probleme, man werde sich morgen drum kümmern. Aber nein, noch zweimal musste er es probieren. Er kam auch selber angerannt, ‚okay, okay, it’s my water heater‘. Wir mussten immer ganz nach vorne, es war nämlich die Hauptsicherung. Dann kam auch noch Philip, sie haben gerade einen Videofilm angeschaut, er sagte seiner Familie, sie solle doch nur ein bisschen warten, es käme automatisch wieder – von wegen automatisch, ich musste immer rennen! Ob er denn keinen Gasherd habe, fragte ich den anderen Engländer. Doch, aber Strom sei billiger. Ob er gar nicht Engländer sondern Schotte ist? Vielleicht sollte Therese ihm die Rennerei in Rechnung stellen...
Am nächsten Vormittag sagte sie, sie gehe raus zum Turnen und Bettwäsche schütteln. Turnen tut ihrem Rücken gut. Bettwäsche schütteln muss auf einen alten innerschweizer Aberglauben zurückgehen, so genau wage ich das nicht zu hinterfragen, sonst schimpft sie mich einen unwissenden Barbaren. Statt der gewohnten Begleitgeräusche dieser Tätigkeiten hörte ich sie diesmal aber nur in allen Sprachen plaudern. Der Nachbar sei Deutschschweizer, berichtete sie anschließend, seine Frau aber welsche, sie spräche also lieber französisch. Und dann wäre auch noch der Elektroniker gekommen. Unser schon lange bestellter Echolotgeber sei eingetroffen, das gleiche Modell gäbe es allerdings nicht mehr, dieses könne man nur an Land einbauen. Und die Nachbarn wollten wissen, wo man hier einkaufe, sie gehe mit ihnen also auf den Markt und in den Supermarkt, sie habe aber gesagt, dass sie zuerst abwaschen müsse.
Normalerweise spüle zwar ich das Geschirr, aber gestern habe ich gekocht, dann muss ich nicht; außerdem war ich inzwischen am Nähen. Der Abwasch war aber noch nicht fertig, als die Welsche schon auf der Matte stand. Sie solle nur gehen, sagte ich, ich mache das hier schon fertig – bei dem ständigen Hin und Her hätte ich mir sowieso nur irgendwann gruusig in den Finger gestochen, war mein Hintergedanke. Sie ging also, und ich konnte meine Arbeit endlich in Ruhe fertigstellen: Unsere seit vielen Jahren bestens bewährte Einkaufstasche fing an, Verschleisserscheinungen zu zeigen, so beschloss ich, ihr neue Henkel anzunähen. Die verwendeten Gurte wären ohne Weiteres für einige hundert Kilo Traglast geeignet, schwächere besitzen wir aber nicht; und nähen lassen sich diese robusten Dinger mit Hausfrauenmethoden und –Werkzeug natürlich schon gar nicht, da muss Mann also mit Segelmacherhandschuh, Zange und anderem schweren Gerät dahinter.
Ein anderes Nähprojekt, an der Therese seit Wochen arbeitet, ist allerdings um Größenordnungen anspruchsvoller: Sie macht einen Schutzüberzug für unser Dinghi, also ein Fifikleidli. Es soll das gute Ding vor UV-Strahlen schützen. So wunderschön die mediterrane Natur auch sein mag, sie ist in gleichem Maße auch mörderisch: Die salzige Feuchtigkeit und die erbarmungslosen Sonnenstrahlen killen alles nicht absolut Höchstwertige oder entsprechend Geschützte in no time. So ein Schlauchbootüberzug ist gar nicht so einfach. Jene, die man hie und da sieht, sind in unserem Fall völlig ungeeignet – oder eigentlich für überhaupt keinen Fall geeignet –, nämlich normale Persenninge, die das ganze Boot abdecken. Um das Boot besteigen zu können, müssen sie also abgenommen werden. Das wäre noch machbar – aber wie bringt man sie an? Schwimmend? Durch Magie? Unser Fifi hängt unterwegs an den Davits, im Hafen oder vor Anker schwimmt er neben ANEKI. Oder, wenn wir an Land sind, wartet er auf uns. Um ihn an den Davits hochziehen zu können, müssen zwei Karabinerhaken eingehängt werden, dazu muss jemand auch reinsteigen; und natürlich auch zum Aushängen. Außerdem regnet es selbst an den Gestaden des Mittelmeeres hie und da. Durch das Gewicht des Regenwassers werden alle normalen Persenninge in der Mitte eingedrückt und in der sich so gebildete Kuhle schwappt noch lange Zeit nach dem Regen eine immer unappetitlicher werdende Wasserlache. Unsere Lösung ist also vergleichsweise geradezu genial zu nennen und ist das Produkt kumulierter nautischer und schneiderischer Erfahrung – und da sie noch nicht patentiert ist, bitte ich um Verständnis, dass sie vorläufig strengster Geheimhaltung unterliegt. Von der Kleinigkeit mal abgesehen, dass sie auch noch nicht ganz fertig, somit völlig unerprobt ist.
Vielleicht war der durchschnittliche Segler vor zwanzig Jahren jünger, mit dementsprechend knackigerem, wohlgepolsterterem Hintern, vielleicht sind nur die Ansprüche gestiegen und die allgemeine Verweichlichung fortgeschritten – wie auch immer, während Rudergängersitze neuerer Amels wunderbar gepolstert sind, besteht unserer aus nacktem, rüdem Kunststoff. Was zur Folge hatte, dass mein... – na ja, meine mich liebende Gattin musste mich schon mal mit Wundersalben behandeln an Stellen, zu denen nicht Jedermann Zugang hat. Das muss ihr aber längerfristig doch zu wenig Freude bereitet haben, so hat sie also mit einigem Aufwand ein Sitzpolster angefertigt. Dessen Überzug war aber auf die Dauer der harten Beanspruchung der hohen See nicht gewachsen, so kam also noch ein weiteres Projekt zu ihrer schier endlosen Liste hinzu. Vorher musste aber einmal mehr meine Kopf- und Gesichtsbehaarung dran glauben. Nicht nur fand sie mich nicht mehr den schönsten Mann weit und breit, sie hatte sogar ernsthafte Bedenken, mich in diesem verwilderten, verwahrlosten Zustand ihrer Familie zu präsentieren – in elf Tagen reisen wir ja bereits ab! Auf dem Rückweg vom Haarschneider habe ich mir endlich merken können, wo wir hier eigentlich liegen: Es ist die Marina del Sole, Molo Sant’Elmo. Am Nachmittag hat sie dann an dem neuen Sitzüberzug gearbeitet. Er ist aus blauen Frottéstoff. Das Problem ist die Befestigung des Sitzpolsters. Während bei Therese ästhetische Überlegungen zu dominieren scheinen, interessieren mich nur funktionelle Gesichtspunkte. Was natürlich nicht als Gegensatz sondern als produktive Ergänzung zu betrachten ist; im Team sind wir stark – und bleiben im Gespräch miteinander.
Die Nacht war ruhig, jetzt bläst es aber, wie schon seit Tagen, wieder kräftig. Es ist nicht daran zu denken, ANEKI zur Pier zu schleppen und den Motor einzubauen oder sie aus dem Wasser zu nehmen. Die Windprognosen versprechen nicht viel Besserung für die nächsten paar Tage, so haben wir beschlossen, Massimo und seinem Vater den Auftrag zu erteilen, ANEKI in unserer Abwesenheit auf das Werftgelände zu stellen. Tonino soll dann dort in aller Ruhe die Maschine einbauen. Der Kranführer wollte dies zwar doch lieber im Wasser machen. Steht nämlich ANEKI hoch und trocken, sieht er nicht in den Maschinenraum, sieht nicht einmal Tonino, er müsste also seinen Kran quasi blind führen. Nun haben sie aber mit Massimo vereinbart, dass er die Verbindung aufrechterhalten wird. Das hat uns Tonino heute Morgen noch berichtet, als wir gerade zum Hallenbad aufbrechen wollten. Mit so wenig Worten können sich Italiener natürlich nicht verständigen, es braucht schon einen mindestens zehnminütigen, gegenseitigen Wortschwall mit vielen Gesten und Scheinaufregung. Vor ein paar Tagen brachten wir unsere Rettungsinsel zum Yachtchandler zur Wartung. Mitte Dezember soll der Spezialist anwesend sein, der das darf und – hoffentlich – auch kann. Wir hatten das schon so vereinbart gehabt, nun war aber das Problem, dass noch kein Kostenvoranschlag vorlag und ohne eines solchen wollte der Händler das nicht machen lassen, sonst könnten wir nachher sagen, das wäre doch viel zu teuer, wenn wir das gewusst hätten... Therese gab ihm also unsere Telefonnummer an, hier und in der Schweiz, damit er unser Okay einholen könne, sobald er wisse, was der Spaß kosten solle. Na, bis die beiden das besprochen hatten – mamma mia! Ich sagte, kein Wunder, dass sie alle so unwahrscheinlich schnell reden, wenn sie all dies im normalen Tempo erörtern wollten, würden sie wohl erst in diesen Tagen zur Gründung Roms schreiten können.
Das mit der Rettungsinsel ist auch so eine Sache. Sie ist vakuumverpackt, was einige Vorteile hat, unter anderem muss sie nur noch alle vier Jahre gewartet werden. Was die Prospekte und Händler aber diskret verschweigen ist, dass es sehr wenig autorisierte Servicestationen gibt. Es gibt zwar eine lange Liste solcher Fachfirmen weltweit, die dürfen aber nur die konventionellen warten, nicht diese tollen vakuumierten. Überall versteckte Haken und Probleme! Auch das Echolot, dessen Geber gewechselt werden soll... Der Geber, den wir haben, ist nicht mehr lieferbar, sagt die Firma hier, nur einer, der direkt im Schiffsboden verschraubt wird. Das sei aber kein Problem, nur könne man das nur an Land machen. Man nimmt die Hülse raus und schraubt stattdessen den Geber rein. Ja, wenn das so einfach wäre! Unsere Hülse ist untrennbar in Kunstharz eingebettet, kann also ohne Gewalt nicht demontiert und der neue Geber auch nicht eingebaut werden – die Anfertigung einer neuen Bohrung, innen und außen mit ebenen, rechtwinkligen Dichtflächen, dürfte mehr kosten als das ganze Echolot.
Während ich da in Frust und Ärger schwelge, ist mein Täubchen mit einer Wagenladung Wäsche unterwegs, und draußen tobt ein Sturm. Ich gehe für einige Minuten raus, stelle die Instrumente an. Bis über fünfzig Knoten zeigt der Windmesser an, das ist Windstärke zehn, schwerer Sturm. Zum Heulen des Windes kommen jede Menge andere Geräusche dazu, neu sind nur die Laute vom Schwimmsteg, wie Schreie eines schwer verletzten Raubtieres. Diesmal hat der Deutsche Wetterdienst ziemlich danebengelangt, vorausgesagt waren nur mittlere Winde. Wenn das die ganze Nacht so weitergeht... na, dann gute Nacht. Zum Glück können wir morgen – wie fast immer – ausschlafen. Eigentlich bin ich doch ganz zufrieden. Ich wollte gar nicht zwischen toten unbeweglichen Mauern leben, ohne zu wissen, ob es draußen überhaupt noch ein Wetter gibt. Und am Morgen aufstehen, ehe die Sonne aufgegangen ist, unter die Dusche gehen, ohne vorher richtig nach Schweiß gestunken zu haben, mich einsprayen bis ich stinke wie eine orientalische Hure, meinen Hals mit Hemdkragen und Krawatte zuschnüren um ins Büro zu eilen... Mein Gott, ist mein Leben – mit all dem Frust und Ärger – schön!...
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Wir sind um zwölf Uhr dreißig in Cagliari ausgelaufen, nachdem unzählige Hände geschüttelt, einige Umarmungen und Küsse ausgetauscht und viele gute Wünsche gesprochen wurden. Zuerst machte uns der von uns vor einiger Zeit entdeckte Inseleffekt zu schaffen: Man hat erst mal den Wind auf die Nase, freut sich aber, dass nach dem nächsten Kap gesegelt werden kann; aber rechtzeitig vor der Kursänderung dreht der Wind genau um den gleichen Betrag – und dies wiederholt sich nach jedem Waypoint. Dann aßen wir eine Kleinigkeit, der Wind frischte auf, wir setzten das Groß zu zweidrittel und die Genua voll und... das habe ich aber gerade schon erzählt.
Gegen Abend begannen wir mit unseren bewährten Dreistundenwachen. Wind und Seegang nahmen etwas ab, kamen gelegentlich auch aus einer vernünftigeren Richtung. Wie oft wir Segel gesetzt und wieder geborgen haben, den Diesel gestartet und wieder gestoppt, könnte ich zwar aus dem Logbuch ermitteln, aber wozu? Wir gaben uns und hatten Mühe. Irgendwann war es aber so, dass ich sagen musste, das wäre genau das Richtige für so ein altes Paar, das Seefahrer spielen will: Windstärke drei, etwas achterlicher als Halbwind, Wellenhöhe vielleicht null komma fünf Meter – es ist schon toll, wie ANEKI daraus spielend fünf Knoten Fahrt herausholt.
Der Sternenhimmel war diesmal nicht gar so prächtig, die Luft war zu feucht, die Sicht entsprechend schlecht, wir konnten aber beide unabhängig voneinander die wenigen Sternbilder die wir kennen, identifizieren. Einmal sah ich einen großen Fisch, Therese ein Kreuzfahrtschiff. Sonst nur Wasser und Himmel. Koje. Wasser und Himmel. Koje. Eine Kleinigkeit essen – das heißt, am zweiten Abend kehrte mein Appetit zurück, für Therese war Seekrankheit auch kein Thema mehr, so kochte sie ihr phantastisches Linsengericht mit Lachs, vorher einen kleinen Salat. Es fehlte nur ein schöner Wein dazu, aber alkoholische Getränke sind für uns unterwegs tabu – und, zumindest bei Saisonbeginn, bis uns wieder Seebeine gewachsen sind, auch Kaffee. Was nämlich viele nicht wissen: Kaffee ist ein hervorragendes Brechmittel.
Drei Stunden in der Koje sind nicht gerade viel, zudem es meistens weniger sind, weil wir zum Beispiel Segel immer zu zweit setzen und bergen; wir finden das sicherer und auch effizienter. Wir wollen auch nicht, dass länger als wenige Minuten niemand im Cockpit ist, um Ausschau zu halten, also darf zum Beispiel während der Küchenarbeit auch niemand liegen. Drei Stunden allein in der dunklen Nacht können aber, besonders wenn man sich dies in vielen Monaten abgewöhnt hatte, unendlich lang sein, vor allem, wenn nichts für Abwechslung sorgt: Statt dem üblichen brillanten Sternenhimmel nur die hellsten durch den Dunst, weit und breit kein anderes Schiff, keine Delfine, kein Leuchtplankton, nur die unendliche Mühe, nicht einschlafen zu dürfen. Erfahrene Langstreckensegler berichten, dass man sich nach einigen Tagen gut an diesen seltsamen Lebensrhythmus gewöhne; der Mensch ist ja sehr anpassungsfähig. In der ersten Nacht schläft man auch dann kaum, wenn man dürfte, alles ist wieder ungewohnt, die Bewegungen, die Geräusche, vom Psychischen gar nicht zu reden.
Obwohl seit vielen hundert Jahren viele tausend Menschen unvergleichlich mehr zur See geleistet haben, sind wir dennoch ein bisschen stolz, dass wir zwei, ein ehemaliger Schreibtischtäter und eine frühere Sozialarbeiterin, in zwei Tagen und Nächten eine Hochseeyacht ganz allein von Cagliari nach Mahón gebracht haben (Und damit das klar ist: verkauft wird vorläufig nicht!). Es gelang uns sogar ein bilderbuchmäßiges Anlegemanöver an einem der zwei mahóner Spezialitäten, schwimmende Plattforme ohne Verbindungssteg zum Land, aber mit Strom- und Wasser. Unsere Sehnsucht nach letzterem, in seiner nichtsalzigen Variante, war dermaßen hoch, dass wir sogar vor dem Hafentrunk zuerst uns und dann auch ANEKIs Deck eine mehr als gründliche Spülung gespendet haben. Danach gab es aber erst mal ein herrlich kühles Bier, und auch eine Flasche Roten haben wir schon aus dem „Weinkeller“ geholt.
Dass es uns in Cagliari gut gefallen hat, lag vor allem an den Menschen. Rein landschaftlich ist es hier in Mahón aber viel schöner; obwohl wir schon mal hier waren, ist es uns erst jetzt so richtig bewusst geworden (Damit sind nur die beiden Städte gemeint, die Insel Sardinien gehört zu den schönsten). Die paar jungen Männer, die uns hier beim Anlegen halfen, waren sehr freundlich und hilfsbereit. Zu meinem Erstaunen konnte sich Therese mit ihnen recht gut spanisch verständigen – ich habe in einem Jahr mehr vergessen als ich je gelernt habe.
Wir liegen hier sehr eng aneinandergequetscht, mit der üblichen Folge, dass die Fender dauernd quietschen – unsere Nachtruhe konnte dieses Geräusch oder was in der Nacht auch sonst um uns herum geschehen mag, in keiner Weise beeinträchtigen. Unsere Kontakte mit den Nachbarn beschränken sich bis jetzt zwar auf wenige freundliche Worte, man betrachtet sich aber mit gegenseitigem Wohlwollen. Außer spanische sieht man britische, deutsche, französische, belgische Flaggen und hört die dazugehörenden Sprachen. Mit der Stromversorgung gibt es die fast als üblich zu nennenden Probleme, mit unserem Wasserkocher ist das Netz anscheinend bereits überlastet, die Sicherung springt immer wieder raus. Vielleicht schließt aber auch nur jemand etwas nicht ganz koscheres an. Die Fehlerstromschutzschalter haben gerade in dieser nassen Umgebung eine sehr wichtige Sicherheitsfunktion, sprechen aber auch an, wenn etwas „komisches“ angeschlossen wird.
Eine Änderung gegenüber letztes Jahr, die wir bedauern, ist, dass hinter der Isla del Rey nicht mehr geankert werden darf; das wäre unser bevorzugter Platz gewesen, wenn wir erst mal die Süßwasserorgie hinter uns hätten – Therese wäscht und spült gerade alles, was wir auf der Überfahrt trugen, alles war salzig und klamm vom Seewasser und auch vom Schweiß. Es wird nun abgeklärt, ob wir bis Sonntag hier bleiben können, sonst können wir an den Schwimmsteg hinter der Isla del Rey verholen. Dort gibt es nicht nur keinen Landanschluss, sondern auch weder Süßwasser noch Strom. Wir werden’s sehen...
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Nachdem es bis zum Nachmittag immer wieder, mal richtig, mal tröpfchenweise geregnet hat, wurde es ein zwar kühler, doch schöner, klarer Abend. Wir beschlossen also, unser Nachtmahl auf der „Terrasse“ einzunehmen. Während Therese lustlos in ihrem trockenen Reis mit ein paar Tomatenstückchen herumstocherte, genoss ich mein riesiges Schweinesteak und den schönen gemischten Salat, zur Stärkung meines Immunsystems mit einer Zwiebel und vier Knoblauchzehen angereichert. Wir sind gerade rechtzeitig für die Abendvorstellung fertig geworden, räumten ab, verstauten auch den Cockpittisch und richteten uns mit ein paar Kissen in unserer Loge ein.
Gespielt wurde das Stück „Schönheit und Gewalt“ von einem unbekannten Autor als uralter Zeit. Es begann mit fernem Wetterleuchten, weit weg hinter der Küste. Über uns gab es nur einzelne Wolken. Man hörte nur hie und da leises Donnergrollen. Die Dekadenz und Frivolität des Menschen wurde durch ferne Diskomusik und den mit tausend Glühlampen beleuchteten Hotelburgen angedeutet. Dann wurden die Lichteffekte allmählich gesteigert, man sah vereinzelt Blitze, die meistens horizontal, die von Wolke zu Wolke durchschlugen. Während zu Beginn die Szene nur für einzelne Sekunden beleuchtet wurde, war sie nun nur sekundenlang dunkel. Die tagsüber sanften Hügel und Berge erschienen nun in diesem scharfen, pulsierenden Gegenlicht gewaltig schroff und abweisend. Dahinter eine faszinierend bizarre Wolkenlandschaft, wie eine Zeitlupenaufnahme von Jahrmillionen über die Entstehung der Hochgebirge unserer Erde. Auch über dem Zuschauerraum wurden nun, fast unbemerkt, Wolken aufgefahren, zum Licht wurde auch etwas Donnern zugeschaltet, und dann wurde der Wind angestellt. Unendliche Reihen niedriger, entstehender Wellen rasten von Land her auf uns zu. Wir fanden es an der Zeit, unsere Zuschauerrolle etwas aktiver zu gestalten. Therese kontrollierte, ob wirklich alle Luken und Fenster dicht verschlossen sind, während ich den Besanbaum in die Mitte schob (tagsüber ist er weit draußen, damit er die Solarpaneele nicht abschattet) und die Instrumente anstellte. Im letzten Akt wurde prasselndes Regnen gespielt, der Wind wurde wieder runtergefahren; das langsam abklingende Wetterleuchten verfolgte ich schon aus der Koje.
Am nächsten Morgen dann azurblauer Himmel mit einigen strahlend weißen Restwölklein, rasch steigende Temperatur – wie wenn wir im Mittelmeer wären...
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105.
Wunderschöner Segeltag mit leichtem Wind, wenig Seegang, ohne Stress und Pannen – auch das gibt es. Nun ankern wir wieder in der Lagune zwischen Olhão und der Insel Culatra – ich hatte schon ganz vergessen, wie schön und friedlich es hier ist. Unser nächstes Etappenziel ist entweder Vila Real oder Ayamonte; sie liegen ja beiderseits der Mündung des Rio Guadiana. Therese sagt, sie könne in Ayamonte besser einkaufen. Ich sage, in Vila Real haben wir aber besser gegessen. Vorher müssen wir aber so oder so die Sandbank vor der Flussmündung passieren, und dazu brauchen wir mindestens halbe Tide, steigend. Morgen müssten wir hier spätestens um sieben gegangen sein, um rechtzeitig dort anzukommen – das würde Tagwacht um sechs Uhr bedeuten, da ist es möglicherweise noch dunkel, so genau weiß ich das gar nicht, will es gar nicht wissen. Die gute Nachricht ist: Die Zeiten verschieben sich täglich um eine gute halbe Stunde. Beschluss: Wir gehen erst übermorgen. „Dann kannst Du den Wetterbericht morgen in aller Ruhe aufnehmen, statt möglicherweise während dem Nachtessen“, freute sich mein Täubchen. „Falsch“, sagte ich, „ich will ihn trotzdem heute Abend reinholen; es könnte ja sein, dass das Wetter morgen gut wäre, übermorgen hingegen schlecht; dann müssten wir doch morgen gehen.“ Also sollten wir um 21:15 fertig gegessen haben – aber nicht vor 20:15 anfangen, weil bis dahin die Wetterkarten gesendet werden. Ist das ein kompliziertes Leben!
Unterwegs hatten wir zuerst Nordwind, wie vorausgesagt. Er war angenehm warm. Dann schlief er kurz ein und kam wieder aus Südwest; kalt. Warmer Nordwind, kalter Südwind... und nach einer Weile sagte Therese: „Die haben doch in letzter Zeit nie etwas von Südwestwind gesagt, oder?“ - „Nein, es muss wohl Thermik sein, das Land ist ja immer noch ziemlich wärmer als die See.“ - „Schon – das erklärt aber nicht diesen Schwell aus Südwest, dazu muss es irgendwo schon längere Zeit Südwest gegeben haben.“ Da hatte sie recht – nur konnte ich nicht feststellen, woher der Schwell kam. Wie sie denn das sehe, fragte ich. Es sei doch ganz klar, ich müsse nur auf die etwas höheren Wellen achten, dann lüpfe ANEKI ihr Füdli und lasse sie unten durch, „siehst du, jetzt grad wieder!“ - „Also Füdli lüpfen und durchlassen, das ist Frauensache, macht ihr zwei das unter euch aus, ich sehe nichts.“ Es war ja ein harmloser, niedriger Schwell, richtig lieblich – wau, jetzt muss ich aber aufhören, ehe es zu erotisch wird! (Für Nichtschweizer: Füdli lüpfen heißt Hintern heben – Schwyzerdütsch hat oft die liebevolleren Ausdrücke).
Nach dem Nachtessen auf unserer eigenen „Seeterrasse“ bewunderte ich die vielen glitzernden Lichter an der Küste bei Olhão. Therese versicherte mir, dass die schon das letzte Mal da waren. Wir lagen wohl zu lange hier vor Anker, die Schönheiten, die man ständig vor Augen hat, nimmt man nach einer Weile nicht mehr bewusst war – zum Glück gilt dies auch für des weniger schöne.
Die Windprognosen gehören, wenn man gegen Osten will, zum weniger schönen: Nordost-Ost im ganzen Seegebiet zwischen Gibraltar, westlich von Portugal und Kanaren und nicht zu wenig davon; genau der Wind, auf den Rico und Co. gewartet hatten – nur zu wenig lang. Diese jungen Leute sind zu ungeduldig.
Therese überlegte gerade, ob sie ein Bad riskieren sollte – sie traue sich nicht hinein, um zu probieren, sagte sie. „Dafür schenkten uns doch Fortschritt und Zivilisation Thermometer“, klärte ich sie auf. „Ach ja, richtig!“ Drei Minuten später gab sie zu Protokoll: neunzehn Grad. Zu wenig, statt Wassergymnastik turnt sie nun auf dem Vorschiff.
Heute bekam ich noch keinen Kontakt zu irgendeiner Winlink-Station (E-Mail) – eigenartig, der Empfang des Wetterberichtes war überdurchschnittlich gut. Später probieren, jetzt gibt’s erst mal eine Suppe.
Der Sommer ist zurückgekehrt. Tagsüber ist es wieder richtig heiß, abends sitzen wir gerne noch eine ganze Weile nach dem Essen draußen. Auch das Wasser ist angenehm, wir zögern nur ganz kurz auf der untersten Stufe der Badeleiter. Zur Leibesentsalzung ist allerdings das warme Wasser aus der Solardusche doch schon willkommen.
Wir sind nach wie vor fasziniert von den Gezeiten. Auch der Einfluss der Mondphasen ist beträchtlich: Bei Vollmond ist das Hochwasser 3,9 Meter, bei Neumond sogar 4,2, bei Halbmond hingegen nur 2,8 und das Niedrigwasser ist auch um einiges niedriger bei Voll- oder Neumond als bei Halbmond.
Das englische Boot, das die ganze Zeit ein-zweihundert Meter neben uns lag, ist heute gegangen. Obwohl wir nie ein Wort mit den Leuten gewechselt hatten, fehlen sie uns irgendwie. Erst als sie ihren Anker fast oben hatten, entdeckte Therese, dass auch eine Katze an Bord war.
Jeden Morgen um 09:20 empfange ich den Wetterbericht. Er ist immer fast gleich: Ostwind, nur die Stärke variiert zwischen 4-5 oder 7-8 Beaufort. Vorher bekomme ich von einer Winlink-Station auch immer die gleiche Meldung: QTC 0 Msgs 0 bytes, was im Klartext „ich habe null Nachrichten, bestehend aus total null Bytes, für dich“ heißt. Irgendwie scheint die Zeit in mehr als einer Hinsicht stillzustehen. Auch das Telefon ist stumm wie die Fische, die ständig um ANEKI herum schwimmen. Ich las gerade einen Roman fertig, wo ein exzentrischer Milliardär das Internet und alle Telefonnetze dauerhaft lahm gelegt hat. Wir würden es hier gar nicht merken – vielleicht hat er tatsächlich... Da ich nicht ganz ohne Gefühl für Stil bin, fing ich nun ein Buch an, wo Nachrichten noch auf Papier mit Pferdewagen befördert wurden. Es ist gar nicht so lange her, und ich hätte Mühe genau zu formulieren, was wir wirklich Wesentliches haben, das man nicht auch schon damals hatte. Was nützen sekundenschnelle, weltweite Kommunikationsmöglichkeiten, wenn sich die Menschen nichts zu sagen haben? Oder keine Zeit zu haben glauben, um es doch zu sagen?
Eigentlich wollten wir vor dem „Winter“ noch Sevilla mit dem Boot besuchen – aber nicht gegen Starkwind auf die Nase und anderthalb bis zwei Meter hohen Wellen. Als letzten Termin, um von Olhão / Culatra gegen Osten weiterzufahren, setzten wir uns den 20. September. Windprognose am 19. spät am Abend: Ost 4-5 Beaufort. Also: go west, young man! Vor dem go west haben die Götter allerdings „Anker auf“ gesetzt; reine Routine – normalerweise. Die Hauptarbeit leistet ja die elektrische Ankerwinde, nur das Ausbrechen des Ankers aus dem Boden schafft sie oft nicht, die Sicherung löst aus. Wir haben es uns also angewöhnt, dies gar nicht erst zu probieren, sondern die kritische ein-zwei Meter Kette mit dem Handhebel zu holen. Nun hebelte mein Täubchen und hebelte und hebelte und... Was denn los sei, fragte ich, mache sie Krafttraining? Böser Blick nach hinten: Nein, es gehe ungewöhnlich schwer, etwas hänge dran. „Soll ich nach vorne?“ Nein, nein... Nach einem weiteren Meter – pro Hebelbewegung kommt vielleicht zehn Zentimeter Kette, wenn es nicht so stark untersetzt wäre, hätte man keine Chance, den Anker auszubrechen – rief sie dann etwas atemlos, dass sie nun doch froh wäre... Ich ging also nach vorne, hebelte und hebelte, Therese hing am Bugkorb – „fall mir jetzt nicht auch noch ins Wasser!“ – und dann rief sie, „es“ komme. Zuerst erschien ein Stück Tau, nicht gerade sauber und neuwertig, dann sagte sie, ein alter Hummerkorb hänge dran. Ich ging also, unser schärfstes Messer holen; inzwischen kam ein Fischer mit einem kleinen Boot, für diese Sorte Mensch ungewöhnlich langsam; Therese winkte ihm. Wir dachten, er werde das Ding sicher brauchen können – aber was machte er? Holte sein Messer raus, schnitt es ab, winkte freundlich und fuhr weiter. Das hätten wir auch ohne ihn können – und er dachte wohl, typisch für diese Wassertouristen, die schaffen’s nicht mal, ein altes Stück Tau von ihrer Ankerkette zu schneiden. Der Hummerkorb sei übrigens leer gewesen, sagte Therese. Hummer gibt es hier zwar keine, nur Langusten, und auch die sind nicht sehr häufig, bis jetzt sahen wir sie nur im Restaurant angeboten. Vielleicht zweimal aßen wir auch schon welche und stellten jeweils fest, dass der Preis den Genuss bei weitem übersteigt – nach zwei Jahren vergesse ich das aber wieder, der nächste dürfte also 2005 fällig werden.
Wann der nächste Ostwind fällig wird, weiß ich nicht – an diesem sonnigen Samstag fand er jedenfalls nicht statt. Im Seewetterbericht heißt es jeweils: DIE VORHERSAGEN BASIEREN AUF DEN MODELLEN DES DEUTSCHEN WETTERDIENSTES UND GELTEN FUER DEN IN KLAMMERN ANGEGEBENEN PUNKT DES SEEGEBIETES. Erstens befindet man sich aber selten genau am „angegebenen Punkt des Seegebietes“. Was aber viel wichtiger sein dürfte: Wetterlagen, die noch nie, seit es systematische Aufzeichnungen der Wetterdaten gibt, aufgetreten sind, können in keinem Modell irgendeines Wetterdienstes berücksichtigt werden. Und diese monatelange Hitzeperiode in weiten Teilen Europas, sogar direkt auf der Alpennordseite, gehört sicher zu diesen Phänomenen – unter anderen.
Mit solchen Gedanken dieselten wir gegen Westen. Es war zunächst ziemlich diesig, klarte aber bald auf, und der anfängliche Schwell aus Südost nahm auch ab, die Wasseroberfläche sah aus wie Öl. Hinter der Küste lag eine lange Wolkenbank, Cumuli, die wir uns nicht recht erklären konnten; Thermik konnte es nicht sein, dann hätten wir doch auflandigen Wind gehabt. Eine schwache Front?
Die Einfahrt in die neue Marina Albufeira kannten wir zwar schon, sie war aber immer noch eindrücklich. Irgendwo sahen wir ein Foto, das vermuten ließ, dass nicht nur der Zugangskanal, sondern das ganze Hafenbecken ausgebaggert wurde – eine bemerkenswerte Leistung. Es eilten wieder ein paar Leute heran, um beim Anlegen zu helfen. Mit der einen Frau, einer Hamburgerin, kam Therese später ins Gespräch. Sie sind vor zwei Jahren da runtergesegelt, leben seitdem hier auf ihrem Boot – die Algarve ist zwar schön, dafür wäre sie uns aber doch zu kleinräumig, in den drei Monaten waren wir ja nicht nur überall, sondern an einigen Orten zweimal und wochenlang. Ich las zwar gerade einen Roman, da sagte ein alter Mann, in jenem Haus wurde er geboren und da werde er auch sterben, wie schon sein Vater und sein Großvater – zu diesen Leuten gehören wir aber nicht. Es war ein zwar schönes, bemerkenswertes, aber eigentlich recht trauriges Buch (Sándor Márai, Die Glut). Es war allerdings ein recht großes Haus, es gehörte auch ein Jagdhaus dazu. Erst gegen Schluss erfuhr man, dass das Jagdhaus zwei Stunden (mit der Pferdekutsche) entfernt lag, und als der Gast sich nach einem langen Abend – es dämmerte schon – zum Gehen wandte, eilte eine ganze Schar Diener heran. Es gab schon reiche Leute früher in Ungarn - und Elend. Heute – das stand nicht mehr in diesem Roman – gibt es wieder Reiche und noch mehr Elend. Die alten Reichen waren in der Regel nicht ganz so große Gangster wie die neuen. Wann wohl die nächste Revolution fällig wird?
Der nächste Winter kommt allerdings nicht nur gewiss, sondern auch – voraussichtlich – früher. Die Hamburger haben den letzten in Portimão verbracht, und so fragte Therese, wie denn die Temperaturen waren; sie fürchtet nämlich, es könnte da zu kalt werden. Ja, morgens war es ein paar Mal schon nur knapp über null Grad, es konnte sich sogar mal Reif an Deck bilden, am frühen Nachmittag wurde es dann aber immer mindestens fünfzehn Grad warm, meistens bis zu zwanzig. Sie hätten einen kleinen Ölradiator gekauft, damit gehe es wunderbar, es bleibe auch alles trocken unter Deck, weil man damit durchgehend die ganze Nacht heizen könne, er sei ja geräuschlos und völlig ungefährlich im Gegensatz zu anderen Heizungsarten. Rico hatte uns auch schon nachdrücklich das gleiche empfohlen, wir glauben, wir werden tatsächlich einen kaufen. Womit zwar der teure Petroleumofen von Bertschi auf die immer noch wachsende Liste der Fehlinvestitionen transferiert werden muss. Ach, vielleicht gibt es mal irgendwann in einer Kälteperiode einen längeren Stromausfall oder Stromknappheit – letztere hatten wir ja sowohl in Cagliari als auch in Aguadulce – und dann kommt Bertschi doch noch zu späten Ehren.
Am Sonntag aßen wir ein besonderes Frühstück und gingen danach spazieren. Nicht, dass wir plötzlich richtig traditionsbewusst geworden wären, wir hatten aber weder Brot noch Z’morgefleisch (Schinken, Salami und ähnliches) im Haus, so gab es Bratkartoffeln, und mit dem Spaziergang wollten wir Thereses Bewegungsdrang und unser beider Neugier befriedigen: Das Hafenbecken wird ja durch bunte Häuser gesäumt, die wir anschauen wollten. Nicht nur die Farben, sondern auch die Formen sind unkonventionell, so fragten wir uns, ob da ausnahmsweise ein fähiger Architekt tätig war. Um es vorwegzunehmen: Die Antwort ist ein klares Nein. Zum Beispiel gehört zu jedem einzelnen Häuschen ein Schwimmbecken. Toll – nur schwimmen kann man in den größeren vielleicht zwei Züge, in den kleineren gar nicht, sie nehmen aber gerade genug Platz im Freien weg, damit nirgendwo ein Tisch und ein paar Stühle hingestellt werden können. Wieso machten die Deppen nicht ein oder zwei richtig brauchbare Pools zur gemeinsamen Nutzung? Dann gibt es pro Haus drei Badezimmer, alle mit Wanne, aber keine mit Duschkabine und mit je einem Waschbecken von der Größe eines Suppentellers. Auch die Küchen sind eher zu klein, zum Teil richtig dunkle Löcher. In der hinteren Reihe entdeckten wir endlich etwas, was ich für sehr wichtig halte: einen gedeckten Sitzplatz. Wir fingen schon darüber zu diskutieren an – Therese: „Da würde ich viele Pflanzenkübel hinstellen“ - ich: „Ja, du brächtest es sicher fertig, dass nirgends Platz für eine vernünftige Tischrunde übrig bliebe“ – bis wir weiter vorne entdeckten, dass sie weder für Pflanzen noch für Liebhaber kühler Getränke und heißer Diskussionen, sondern für die Autos gedacht sind. Es gibt aber gewölbte Decken, krumme und schräge Wände, alles für den Effekt, ohne Zweck und Nutzen; riesige, hohe Fensterwände, um die zu putzen man vermutlich die Feuerwehr bemühen muss, teilweise nach Süden, wo sie sowieso die ganze Zeit verrammelt bleiben, will man keinen Hitzschlag erleiden. Das Positive dabei: Wir würden uns sowieso nicht hier niederlassen wollen, zu teuer dürften sie auch sein, so haben wir wenigstens nicht das Gefühl, etwas zu verpassen.
Innen konnten wir ein paar Häuser nur deshalb besichtigen, weil ganz normal gearbeitet wurde, Sonntag hin oder her. Das Aussehen der Arbeiter ließ allerdings auf Nordafrikaner schließen, also vermutlich Muslims, deren Sonntag ja am Freitag stattfindet – aber freitags wird natürlich auch gearbeitet, in Portugal ist das ja wiederum ganz normaler Arbeitstag. Soviel zum nordländischen Vorurteil über die „faulen Südländer“. Bemerkenswert ist auch, dass Portugal mittlerweile Fremdarbeiter beschäftigt, trotz hoher Arbeitslosigkeit im eigenen Land; in ärmeren Regionen soll sogar Hungern vorkommen und es landesweit fünf bis zehn Prozent Analphabeten geben.
Als wir zurückkamen, wäre es langsam Zeit zum Kochen gewesen. Dann kam aber der Herr Stegnachbar und fragte, ob wir nicht Lust auf ein Glas Wein hätten. Das haben wir fast immer, so saßen wir fast bis zehn Uhr mit zwei deutschen Paaren in dem gemütlichen Cockpit eines traditionellen Motorseglers, tranken Rotwein und Porto und sprachen über Gott und die Welt. Das Menü wurde danach auf ANEKI kurzfristig umgestellt: Statt der geplanten zeitaufwendigen Bohnensuppe zauberte Mafalda die Tüchtige in no time hervorragende Spaghetti mit Tomaten und Thunfisch auf den Tisch.
Montag war Großkampftag. Heinz, unser Gastgeber des Vorabends, führte uns durch verwinkelte Gassen und zahlreiche Ecken, über belebte Plätze mit immer noch vielen Touristen, Gauklern und Musikanten in einen riesigen Supermarkt, den leer zu kaufen zwar selbst uns nicht gelang, dennoch konnten wir den Kofferraum eines Mercedes bis in die hinterste Ecke füllen. Um das alles vom Gehsteigrand, wo uns der Taxifahrer auslud, über einige Treppen, Rampen und Stege auf ANEKI zu schaffen, kann als logistische Meisterleistung bezeichnet werden. Das damit verbundene emsige Treiben erregte allerdings das Mitleid eines uniformierten Wachmannes. Tragen half er zwar nicht, erklärte aber mehrmals Kurve um Kurve, wo uns das Taxi hätte hinfahren sollen. „Obrigado, obrigado, next time we will know“, beruhigten wir ihn in der landesüblichen Sprachmixtur.
106.
Meine Mafalda hat manchmal seltsame Probleme. Sie fand in einem deutschen Kochbuch mit dem germanisch phantasievollen Titel „Das Kochbuch“ ein Rezept, das sie nachkochen wollte. Das Gericht enthält Rauke. Ob ich wisse, was das sei. Nein. Den Nüsslisalat nennen „die“ Feldsalat... könnte es Randen sein? „Nein“, sagte ich, „das heißt rote Beete.“ Dann dieses italienische, grobe, wie heiße es schon wieder... Insalata rabbiosa, schlug ich vor. Weil sie das aber weder geistreich noch nett fand, schlug ich in diversen Unterlagen nach. Rauke kam weder im italienischen, noch im englischen Wörterbuch vor, aber im elektronischen Brockhaus:
Rauke (Sisymbrium), Gattung der Kreuzblütler auf der Nordhalbkugel und in Südamerika; die bis 60 cm hohe Wegerauke (Sisymbrium officinale) mit gelben Blütentrauben wächst auf Äckern und Ruderalstellen.
Das half uns allerdings einkaufs- und ernährungsmäßig auch nicht weiter, noch die Abbildung der Wegerauke. Ich schlug vor, einen Blumen- und Gemüsehändler an Bord zu bitten und die Abbildung zu zeigen – den Laptop können wir nicht mitnehmen, weil seine Batterie nichts mehr taugt. Alternative: Sie sollte die deutschen Nachbarn fragen gehen; ich suchte inzwischen selber weiter. Nun das Interessante: Im deutsch-italienischen Teil kommt Rauke nicht vor, aber das italienische Wort rucola wird übersetzt: Rauke! Heureka! Die deutschen Nachbarn versagten total: Rauke hätten sie noch nie gehört, rucola hingegen kannten sie sehr wohl. Heinz sagte, bei ihnen in Norddeutschland würden sowieso nur Steckrüben wachsen und Heringe. Wir pflegen dennoch rege soziale Kontakte mit den nordischen Nachbarn, gestern waren sie bei uns zum Kaffee und Kuchen. Da wir wissen, dass sie unter Kaffee meistens eher etwas Dünnflüssiges verstehen, hat Therese mit Gisela vereinbart, dass sie ihn selber mitbringt. Der Nachmittag geriet so zur allgemeinen Zufriedenheit.
Ach so: Was zum Teufel sind Ruderalstellen?
Heinz erzählte, dass neulich ein weiteres deutsches Boot ankam. Er wollte beim Anlegen helfen, wurde aber mit den Worten „das ist mein Job!“ abgewiesen. Einige Minuten später erschien aber der selbstbewusste Skipper und verkündete, nun habe er einen Anlegetrunk verdient, ob Heinz einen Schnaps habe. „Ich habe zwar einen Calvados, der war aber nicht im Kühlschrank, so kann ich ihn doch nicht anbieten“, sagte er, immer noch etwas verlegen. Dabei ist der andere, Jens, einfach ein Spaßvogel – wir werden ihn noch kennen lernen – Heinz hingegen scheint jener Sorte Germanen anzugehören, denen Späße immer vorangekündigt werden müssen, sonst nehmen sie alles wörtlich.
Seit gestern Abend ist – vorübergehend, hoffe ich – Herbst. Diesmal stimmen die Prognosen recht genau: Überall zwischen Gibraltar und Kap Finisterre „SH“ und „TS“, das heißt Schauer und Gewitter. Es gelang uns, das Sonnentuch genau in der viertel Stunde, wo es schon trocken aber noch nicht wieder nass war, zu bergen.
Heinz und Erika sind gestern mit Ziel Portimão ausgelaufen. Nun fragen uns die übrigen Deutschen, wieso so plötzlich, ohne sich zu verabschieden. „Also im Vertrauen“, könnten wir sagen, „ihr seid ihnen furchtbar auf die Nerven gegangen“ oder „Heinz fand, Erika werde hier negativ beeinflusst“ oder... Solche Sachen sagen wir aber nicht, wissen auch nicht, wieso es plötzlich so pressiert hat und wollen unsere neuen sozialen Kontakte nicht durch Psychoexperimente gefährden. Unser Gesellschaftsleben findet in diesen Tagen auf deutsche Art statt: Am Nachmittag gibt es dünnen Kaffee und am Abend „ein“ Glas Wein, letzteren zu unserer Essenszeit. So essen wir halt entweder zu früh oder zu spät, statt zu sagen, das passe uns nicht, wir möchten entweder früher kommen zum Aperitif oder später zum Kaffee – nein, Kaffee ginge nicht, dann bekämen wir wieder diese germanische Brühe oder wir müssten sagen, hört mal, wir plaudern wirklich gerne mit euch, aber müssen wir deshalb unbedingt das komische Zeug trinken?
Jens und Claudia sind auch erst seit diesem Frühling unterwegs, nun wollten sie von uns wissen, ob sie ins Mittelmeer sollen. Was kann man darauf antworten? Die Balearen sind teuer, aber das Wasser in Kroatien und in der Türkei wunderbar sauber, bei den Untiefen nordwestlich von Sizilien ist Vorsicht geboten, die Menschen in Cagliari sind extrem freundlich und in Palma de Mallorca extrem unfreundlich, von den Griechen hört man sehr viel Gutes und sehr viel Schlechtes, die Araber sind sowieso ganz anders und das Segelwetter... tja, achtzig Prozent Flaute, zehn Prozent kämpfst du ums nackte Leben, der Rest ist schön. Jetzt wissen sie aber immer noch nicht, ob sie nach links oder nach rechts sollen – links sei das Mittelmeer, rechts die Kanarischen Inseln. Ob man auf den Kanaren ein Jahr verbringen könne? Statt dies für sie zu entscheiden, rieten wir zu Kakerlaken-Profilaxe. Ob auch schon hier? Ja, überall. Wir erzählten auch, dass manche Geld dazuverdienen, mit Näharbeiten, Sprachlektionen, Kinder hüten, Putzen, Wartungs- und Reparaturarbeiten. Er wüsste nicht, was er arbeiten könnte, sagte Jens. Was er denn von Beruf gewesen wäre? Landwirt. Das gehe auf dem Schiff tatsächlich nicht so gut, sagte ich, die Humusschicht sei zu dünn. Claudia war Lehrerin.
Erika sei furchtbar naiv, sagt ihr Mann Heinz. Erika sei von Heinz total unselbständig gehalten, sagt Gisela, sie habe nicht einmal Geld zur eigenen Verfügung; Therese nennt es sogar modernes Sklaventum.
Gisela und Ludwig sind schon seit zwei Jahren da. Im letzten Jahr machten sie Heimaturlaub in Deutschland, das sei so stressig gewesen, dass sie beide Herzinfarkte bekamen. Ihr Sohn lebe seit seinem vierunddreißigsten Lebensjahr auf seinem Schiff, jetzt gerade in Trinidad, als Rentner. Er war Offizier bei der Bundeswehr, müsse aber nun so starke Korrekturgläser tragen, die es nur als Kontaktlinsen gibt und das sei bei der Bundeswehr nicht zulässig. Sowas leistet sich auch nur Deutschland, Rente mit vierunddreißig. In Aguadulce haben wir Wolfgang kennengelernt, auch so einen jungen bundesdeutschen Rentner. Er war Polizist, bekam irgendwann Angstzustände. In der „reichen“ Schweiz hätte es geheißen, ja, guter Mann, dann machen sie halt etwas weniger Angsteinflössendes, man hätte ihm bestenfalls eine Umschulung finanziert. Die Deutschen bekommen Renten – und jammern, dass es wirtschaftlich nicht so toll gehe. Das tun allerdings die Schweizer auch. Man diskutiert ernsthaft über die Heraufsetzung des Rentenalters auf siebenundsechzig – obwohl auch in der Schweiz immer mehr Leute frühzeitig pensioniert werden. Da fällt mir ein, was ich neulich in der Zeitung las: „Das mag ja vielleicht so in der Wirklichkeit stattfinden, aber funktioniert es auch in der Theorie?“
Ich brachte gerade Fifi – sie hängt an den Davits – in die richtige Lage, damit er pinkeln konnte (zum Glück löste er nur Regenwasser), als eine Frau Guten Tag rief. „Ist Ihre Gemahlin nicht anwesend?“ So förmlich sind die Umgangsformen in unseren Kreisen normalerweise nicht, aber die Aussprache verriet sie sofort: Es war das Schuldeutsch einer Holländerin. Als Therese raus kam, fragte sie etwas direkter: „Willst du Kefir?“ - „Jaaa... Kefir...?“ Sie mache selber Kefir, die „Pflanze“ werde aber immer größer, wie sagt man... „Sie wächst?“ - „Ja! Sie wächst!“ Nach einigen weiteren Sätzen kam langsam Verständigung zustande. Sie habe eine Kefir-Kultur, welche ursprünglich aus Russland komme, mache damit jeden Tag Kefir aus Milch, das sei sehr gesund für wie sagt man... ja, den Darm, schmecke aber auch lecker. Die Kultur vermehre sich aber, und wenn man dann zu viel habe, könne man jemanden im Hafen fragen: Willst du Kefir? Karin und Rolf berichteten vor einiger Zeit aus der Karibik, dass sie da ebenfalls Kefir-Kultur verbreiten, wörtlich und in übertragenem Sinne. Ob ihre auch aus Russland stammt?
Jetzt turnen die zwei Frauen. Therese macht ja oft – theoretisch täglich – ihre chinesischen Übungen auf dem Vorschiff. Als Gegenleistung für den Kefir bat die Frau drum, mitmachen zu dürfen. Holländer können manchmal gar zu „sparsam“ sein, wir mögen aber ihre Spontaneität, Humor, etwas raue Herzlichkeit.
Ob das die holländische Sparsamkeit oder echter Geldmangel war, werden wir nie erfahren: Sie hatten noch nicht ganz fertig geturnt, als ihr Mann kam, sie solle bitte sofort kommen, sie müssten auslaufen, morgen werde das Wetter noch schlechter. Sie haben einen Katamaran und zahlen dafür fünfzig Prozent mehr Liegegebühr als Einrumpfboote, das sei ihnen zu viel. Obwohl sie hier ja auch nur die Hälfte zahlen wie alle anderen, haben also quasi immer noch 25% Ermäßigung für ihren Kat. Er schimpfte, das sei ungerecht; ich finde es nicht, ein Kat belegt ja, durch seine Breite, zwei Plätze, 50% Zuschlag ist also noch human. Wo sie denn überwintern wollten, fragte Therese – wenn ihnen hier schon ein paar Tage zu teuer sind, dachte sie. Sie wüssten es noch nicht, sagte er ausweichend, das sei ja die Freiheit bei diesem Leben, vielleicht fahren sie noch auf die Kanaren. „Ist das ein Elend mit diesen Yachties!“ sagte Therese. „Sie haben einen großen Katamaran und können sich aber die Liegegebühr nicht leisten.“ Können nicht oder wollen nicht? Wie gesagt, das wissen wir nicht. Wir haben schon einige kennen gelernt, die wirklich kaum konnten. Manche waren konsequent, hatten ein kleines, altes Boot und reparierten oder restaurierten es selber, wir haben aber auch schon ein Paar kennengelernt, das mit nicht ganz einer Million Franken anfing – das klingt zwar nach viel Geld –, kaufte für mehr als die Hälfte (!) eine neue (!) Vierzehnmeteryacht, nach einem Jahr schrumpfte ihr Vermögen auf ein- oder zweihunderttausend zusammen, und ihr einziger Verdienst ist eine halbe Invalidenrente, etwas mehr als tausend Franken im Monat. Sie segeln also buchstäblich mit offenen Augen – oder eher blind – in den finanziellen Ruin. Nette Leute, sie zwar etwas dümmlich, er tüchtiger Handwerker, jetzt etwas depressiv, weil er zu wenig zu tun hat. Warum kaufen solche Leute nicht ein etwas kleineres, altes Boot, dann könnte er seine Fähigkeiten voll zur Geltung bringen, das Boot würde jede Woche schöner, er glücklicher werden, und die Bordkasse sähe auch ganz anders aus; solche Beispiele kennen wir auch. Boote sind ja nicht wie Autos, sind eher mit Häusern vergleichbar; wenn sie ein begnadeter Handwerker bewohnt, leben sie ewig, werden immer schöner – und die Gefahr von Seelenzuständen wegen Unterbeschäftigung ist sehr, sehr weit weg...
Nach zwei Tagen mit starker Bewölkung und zum Teil heftigen Schauern leuchtet heute wieder die Sonne aus einem tiefblauen Himmel. Wir – das heißt eigentlich der Deutsche Seewetterdienst – trauen aber dem Frieden noch nicht recht, bis morgen Mitternacht sind immer noch Schauer und Gewitter versprochen. Jens kam heute Vormittag vorbei, um sein für 24 Stunden ausgeliehenes Buch zurückzuholen, weil sie heute auslaufen wollten. Ich zeigte ihm aber den Wetterbericht, und prompt hat er seine Reisepläne um einen Tag verschoben; so kann nun auch Therese das Buch fertig lesen, einen Krimi oder Liebesroman von Simenon. Ich bin froh, ihr nicht erzählen zu müssen, wie es ausging: Am Schluss gab es nur Tote und Unglückliche. Ich hasse solche Geschichten, nahm es sogar Hemingway sehr übel, dass es bei ihm auch nie glückliche Überlebende gab.
Die glücklichen Überlebenden auf der ANEKI sind nur leicht betrübt: Das vom Peter zweimal reparierte Fenster unseres „Schlafzimmers“ ist nach wie vor undicht. Nun hat es Therese wieder mit einem Klebstreifen versucht – das hatten wir ja schon mal, vor Peters Bemühungen. Die gute Nachricht ist: Sand und Staub sind nun weitgehend aus dem Rigg gespült. Selbst Thereses helvetischer Ordnungssinn und Putzleidenschaft gehen nicht soweit, dass sie mit Wasserschlauch und Bürste den Mast erklimmen wollte.
Wir hoffen, dass das Wetter uns nicht dazu zwingen wird, hier nochmals einkaufen zu müssen. Bis zum zwar recht hübschen, wenn auch sehr touristischen Dorfkern marschiert man schon etwa dreiviertel Stunde, der große Supermarkt ist am jenseitigen Ende. Ein etwas näher liegender ist unverschämt teuer – hat aber Sauerrahm, eine Seltenheit in Südeuropa. Gegenwärtig testen wir Wein. Beim letzten Einkauf holte Therese zehn verschiedene Flaschen in der von uns bevorzugten Preislage zwischen drei und vier Euros, nun notieren wir jedes Mal, welche uns schmeckt, welche nicht. Die vor einigen Jahrzehnten üblichen kleinen Geschäfte, die guten Wein viel billiger ab Fass verkauft hatten, findet man leider kaum noch; in Aguadulce gab es eines, es wäre schön, wenn es auch in Lagos eins gäbe; und eine gute Metzgerei, die ist auch selten. Ob wir zu anspruchsvoll sind?
Rico und Co. sind inzwischen auf der Kanareninsel Graciosa angekommen; das freut uns für sie. Auf Madeira lagen sie im neuen Hafen Canical und waren sehr zufrieden – gut zu wissen. Wir kennen nur Funchal, wo seit Jahren Platzmangel herrscht.
Erst hieß es, wir müssten heute unbedingt wieder auswärts essen, weil es auf dem Dorfplatz von Albufeira eine sehr lustige Marionettenvorführung gäbe. Weil das Wetter aber wieder mal ziemlich nach Regen aussah, schlug ich vor, das große Theateressen auf morgen zu verschieben, was langwierige Menüverhandlungen zur Folge hatte. Es war zwar klar, was zur Verfügung steht: Tortellini, Tomaten und Steaks. Therese wollte aber nur wenig oder gar kein Fleisch. Dann soll sie die Tortellini essen, ich das Fleisch und beide jeweils Tomatensalat dazu. Nein, nur Fleisch und Tomaten, das sei doch trostlos für mich. Wieso? Nein, das wolle sie nicht. Aber drei Gänge – zuerst die Tortellini, dann Tomatensalat, zuletzt Steaks, wie es die Italiener, das Volk mit der vielleicht höchstentwickelten Esskultur in Europa, machen würden – das sei ihr wiederum zu kompliziert, mit zuviel Lauferei zwischen Küche und Tisch verbunden. Dann halt zuerst ein Teller Suppe, danach für mich Fleisch mit Tomatensalat als Beilage und für sie Tomatensalat mit Fleisch als Beilage. Das wurde als dummer Scherz abqualifiziert. Geeinigt haben wir uns auf folgende Variante: Als erster Gang Tortellini, für sie etwas mehr als für mich. Dann geht sie die Steaks braten, derweil ich meinen Tomatensalat als zweiten Gang genießen werde. Wenn das Fleisch fertig ist – was ja nur Minuten dauern dürfte – esse ich ein großes solo und sie ein kleines mit ihrem Tomatensalat. Obwohl die überaus wichtige Frage, wo der unerlässliche Knoblauch dazukommen soll – auf die Tomaten kommen Zwiebeln und auf die Tortellini Salbei und parmeggiano – noch nicht explizit erörtert wurde, ging sie ihren Bewegungsdrang befriedigen; meiner ist nicht so ausgeprägt...
Zwei Stunden später berichtete sie: Oben auf dem Hügel, zwischen der Marina und dem offenen Meer, finde die Dritte Welt statt. Einerseits gäbe es da absolut sagenhafte Multimillionärsvillen, riesige Gebäude – sie frage sich, was man mit so viel Platz anfangen könne – inmitten gepflegtesten Gartenanlagen, alles mit Überwachungskameras und Ähnlichem gesichert. Zweihundert Meter daneben, inmitten irgendwelcher Bauruinen, notdürftig aus verwitterten Sperrholzresten zusammengenagelte Elendshütten mit einer Schar total verwahrloster Kleinkinder, überall Schutt und Dreck. Der Strand weiter vorne sei dann wiederum ganz wunderbar, mit algarvespezifischen bizarren Felsen mitten im Sand. Nach dem Regen der letzten Tage blühe und grüne nun wieder alles, es sei sagenhaft schön, abgesehen von diesem unvorstellbaren Reich-Arm-Gegensatz. Die See sei übrigens noch ziemlich aufgewühlt. Sie brachte ein sehr schönes Schneckengehäuse sowie frischen Rosmarin mit nach Hause.
Der Marionettenspieler, dem wir am nächsten Abend auf dem Dorfplatz zuschauten, war wirklich gut. Seine Puppen „spielten“ diverse Musikinstrumente, zuerst kam ein Saxophonist, eine großbusige Diva sang und begleitete sich mit dem Bass, ein feuriger Zigeuner spielte Geige, ET Klavier und zuletzt kam noch ein Clown. Der hatte es einem kleinen Buben, keine vier Jahre alt, Zuschauer wie wir, angetan: Er küsste ihn mehrmals auf die rote Knollennase, tanzte mit ihm, und am Schluss verbeugten sie sich zusammen artig. Kinder können manchmal herrlich sein!
5. Oktober, letzter Tag der Saison 2003 auf See – mit nur leichter Übertreibung können wir ihn sogar Segeltag nennen. Der eher zu schwache Wind entschied sich, einmal mehr in Opposition zu den Meteorologen, für südliche Richtung, der Himmel bestätigte allerdings die Prognosen: Er war zu drei Vierteln mit Altocumuli und Altostrati bewölkt. Schleierartige Streifen wechseln mit Schleier- und Balkenformen. Der Himmel zeigt daher große Unterschiede in Helligkeit und Farbtönen... Diese Art Bewölkung befindet sich häufig am Rand von Schlechtwettergebieten, die bisweilen seitlich am Beobachtungsort vorbeiziehen, ohne hier Regen zu bringen. Wir hatten nichts dagegen, dass das Buch „Seewetter“ recht behielt: Es regnete nicht, die Sicht war gut, kaum Seegang, die Küste der Algarve wie immer malerisch, wenn wir sie auch nicht so gut sahen als jene, die näher dran vorbeifuhren. Ich bin lieber außerhalb der Zwanzigmeterlinie, und diese Küste ist nicht nur schön, sondern auch erstaunlich flach, will man beruhigend viel Wasser unter dem Kiel haben, sind schon ein bis zwei Meilen Abstand erforderlich. Um in den Hafen zu kommen, muss man natürlich wieder näher ran, aber die Ansteuerung von Lagos birgt keine Untiefen, und die zwei Türme an den Molenköpfen – an Backbord weiß-rot gestreift, an Steuerbord theoretisch weiß-grün, wobei das Grüne durch meine Sonnenbrille eher schwarz aussah – sieht man schon aus beruhigender Entfernung. Ich mag es nicht, wenn sich die Angaben des GPS nicht schon weit weg konventionell bestätigen lassen. Bei der glatten See konnte Therese schon fünf Minuten vor dem letzten Waypoint, unmittelbar vor der Hafeneinfahrt, ihre Vorbereitungen abschließen.
Der Kanal, der zu der Marina führt, kam mir wieder unendlich lang vor. Hinter uns kam ein Ausflugsschiff, eine große Ketch mit Touristen wie Ameisen an Deck. Die Profis zeichnen sich meistens nicht gerade durch große Geduld aus, er hielt aber beruhigend großen Abstand, überholte erst, als es klar war, wohin wir wollen: an den Bunkersteg, landrättisch Tankstelle genannt. Zweihundert Liter waren noch im Tank, 164,3 liefen rein. Nun verholten wir die paar Meter an den Anmeldesteg und gingen ausnahmsweise beide ins Büro. Unsere Daten waren schon im Computer, so ging es schnell. Bezahlen können wir erst in zwei Tagen, man müsse für eine so lange Zeit zuerst einen Vertrag vorbereiten, so bekamen wir nur zwei Zugangskarten und einen Plan mit unserem Liegeplatz: Steg D, Nummer 51. Hinter uns kam ein sympathisches kanadisches Paar; leider überwintern sie aber nicht hier, wollen weiter ins Med, wie englisch Sprechende das Mittelmeer zu nennen pflegen. So blieb unsere einzige Gemeinsamkeit darauf beschränkt, auf sie zu warten, damit die Fußgängerbrücke bei der Einfahrt in die Marina nicht zweimal geöffnet werden musste.
Unseren Platz anzusteuern, bot diesmal kein Problem, ausnahmsweise kam der ohnehin leichte Wind nicht von der Seite, wie sonst üblich. Hilfe ist natürlich trotzdem nie unwillkommen, so eilte auch ein Australier her, um die Leinen entgegenzunehmen, während unsere neuen direkten Nachbarn nicht einmal ein Kopfnicken zur Begrüßung für nötig hielten. Komische Vögel gibt’s halt in allen Kreisen.
Nach dem Anlegetrunk – schnödes Bier – war noch die äußerst beliebte Tätigkeit des Ölwechsels zu erledigen, so lange die zu wechselnde rabenschwarze Brühe noch warm war. Es tut der Maschine gut, ihren Winterschlaf im sauberen, nicht mit Russpartikeln, Kondenswasser und Schwefelverbindungen – Dieselöl enthält immer einige Promille Schwefel – verseuchtem Altöl zu absolvieren. Es ging nur ein ganz klein bisschen daneben...
Danach aber noch zu kochen, darauf hatten wir beide null Bock, so gingen wir ins erstbeste Restaurant direkt am Ende unseres Stegs und hatten Glück: Speise und Trank waren gut, das Servierpersonal – alles junge Mädchen – freundlich und kompetent, der Preis akzeptabel. Warum wir diese Nacht beide schlecht schliefen, können wir nicht erklären.
Nun sind wir also für sieben Monate da und schmieden bereits Besuchs- und Reisepläne – das erzähle ich aber erst nach Verwirklichung.
107.
Banco Espirito Santo – eigentlich wollte ich mit dieser nichts zu tun haben, nun liegt aber ausgerechnet die uns am nächsten. Und überhaupt, welche ist denn sympathischer? Die spanische Banco March ist reich und mächtig geworden, weil der junge March die Franco-Faschisten finanziert hatte. Die Banco Bilbao y Wasweißichwas sah sich in Palma außerstande, einen ansonsten als absolut einwandfrei erkannten Bankcheck über einen selbst für die kleinste Bank lächerlichen Betrag bar auszuzahlen. Unsere „eigene“, die Credit Suisse, schlingert neuerdings von Skandal zu Skandal. Also baten wir halt die irdischen Vertreter des Heiligen Geistes, uns ein bisschen mehr Geld auszuzahlen, als die portugiesischen Automaten von sich zu geben gewillt sind. Wir mussten zwar auch dazu mehrmals hinpilgern, aber wenn schon nicht Geld, Pilgern passt zu dem Firmennamen.
Unser ungewöhnlicher Bargeldbedarf hat mit meines Täubchens Gliedern und Gelenken zu tun. Gisela litt viele Jahre unter Bandscheibenproblemen. Unzählige Fachleute, mit oder ohne Doktortitel, in kleinen Praxen oder großen Kliniken und Kurhäusern, hatten sich mit mehr als bescheidenem Erfolg um Linderung bemüht. Letzten Winter zeigte ihr ein Stegnachbar irgendein Wundergerät, bestehend aus einer „Blackbox“ mit Batterie und einer Matte. Sie solle täglich zweimal eine knappe halbe Stunde darauf liegen und sich entspannen. Zunächst merkte sie nichts, dachte, so ein Quatsch – und irgendwann am dritten Tag fragte sie sich plötzlich, nanu, wo sind meine Rückenschmerzen geblieben? Sie behauptete, das Ding habe bei ihr tatsächlich fast Wunder bewirkt und lieh es Therese zum Ausprobieren. Nicht nur ich, sogar sie war skeptisch, nach einer Woche regelmäßigen Gebrauchs war sie aber überzeugt, es ginge ihr eindeutig besser. Als wir Albufeira verließen, musste sie es natürlich zurückgeben – und vermisst es. Es ist zwar unverschämt teuer, wenn es aber wirklich hilft, darf es am Geld nicht liegen. Entscheiden müsse sie aber schon selber, ich spüre ja weder ihre Schmerzen noch ihr Wohlbefinden, sagte ich – ich weiß, dass sie nie leichtfertig Geld ausgibt, bis sie sich eine neue Hose leistet, natürlich nur im Ausverkauf, muss ihr Hintern schon relativ unanständig (aus weiblicher Sicht) respektive sexy (aus männlicher) durch die alte leuchten. Wenn sie also beschlossen hat, diese Investition zu tätigen, muss etwas dran sein. Es wäre schön, wenn es auch längerfristig ihre Hoffnungen erfüllen würde.
Aber auch an das Wohlbefinden nicht ganz so komplexer Organismen liegt es uns. Wie jeden Herbst haben wir sowohl das Kühlsystem des Fifimotors als auch des Diesels mit Süßwasser durchgespült. Ganz ohne Aufregung geht sowas bei uns nie. Die Sondereinlage bestand diesmal darin, dass es das Ventil am Schlauchende abgejagt hat; bis ich beim Wasserhahn draußen auf dem Steg war, schrie mein Täubchen ununterbrochen abstellen! abstellen! abstellen! abstellen! abstellen! Der Rest war dann Routine. Der Kühlwasserfilter enthielt diesmal nur wenig Culatra-Seegras. Es ist eine spezielle Sorte, sieht aus und fühlt sich an wie schmale Tonbandstreifen, ist aber viel zäher.
Anderntags ging’s weiter mit dem harten Arbeitseinsatz: Wir haben alle Festmacher – zwei Bugleinen, eine Heckleine, zwei Springs – durch alte, steif gewordene ersetzt, damit die neueren nächstes Jahr nicht auch so unhandlich werden. Natürlich spülen wir sie von Zeit zu Zeit, die Steifheit entsteht aber nicht nur durch Sand und Salz, sondern sie ist, nicht anders wie bei uns zwei, eine Alterserscheinung. Eine Zeit lang haben wir überlegt, wo wir Dämpfungsfedern einsetzen sollten oder könnten. Im Mittelmeer lagen wir ja im Winter immer mit dem Heck zum Steg, zwei Heckleinen mit Dämpfungsfedern und zwei weitere über’s Kreuz; der Bug wurde durch eine oder zwei Mooringleinen gehalten. Hier in Gezeitengewässern sind Mooringleinen nicht brauchbar, durch das Auf und Ab müsste ihre Länge ständig nachreguliert werden. Die Schwimmstege werden, statt mit Grundketten gehalten zu werden, durch massive, in den Grund gerammte Pfähle geführt und haben pro Schiff einen „Finger“, eine Art Miniquersteg. Diese sind aber kürzer als das Schiff, so halten Bug- und Heckleinen in der gleichen Richtung. Kräfte in der anderen Richtung müssen durch so genannte Springleinen aufgenommen werden. Welches „Seil“ nun in welcher Richtung hält, scheint für weibliche Wesen nichttechnischer Berufsrichtung genau so unergründlich zu sein, wie für mich simplen Techniker zum Beispiel das verbreitete menschliche Phänomen, dass jemand etwas sagt und etwas ganz anderes tut. Wegen Letzterem und Ähnlichem überlasse ich wichtige Gespräche gerne ihr, dafür nahm sie es erstaunlich gelassen in Kauf, dass ich bestimmt habe, wo welche Seile, an welcher Stelle mit einer Dämpfungsfeder wie fest durchgeholt oder bewusst locker gelassen uns während der zu erwartenden Winterstürme halbwegs ruhig schlafen lassen sollen. Durch den Fingersteg braucht man hier übrigens keine Gangway, ein Schritt – zwar siebzig Zentimeter hoch – und man ist an Bord.
Da wo die Dämpfungsfeder und die dazugehörenden Schäkel und Leinen gestaut waren, sind auch unsere Malutensilien. So nutzte die tüchtige Bordfrau die Gelegenheit, eine unschöne Stelle am Leistungshebelgehäuse auszubessern. Ich schliff sie an, sie strich Primer drauf, morgen soll die mattschwarze Deckfarbe folgen. Der Deckel jenes Staukastens wird durch drei Schrauben verschlossen. So muss die folgende Nacht Orfeo Giallo nicht nur auf die Instrumente, sondern auch auf die drei Schrauben und den Schraubenzieher aufpassen. Orfeo Giallo gehört erst seit einigen Wochen zur ANEKI-Crew. Er ist gelb, hat aber einen orangenen Bauch und eben solche Kehle und muss gentechnologisch entstanden sein: halb Frosch, halb Teddybär. Er durfte an Bord kommen, weil Therese fünf Euros an ein Waisenhaus gespendet hat. Im Hafen hockt er vor dem GPS. Unterwegs muss er da weg, damit wir die Anzeige sehen, dann lehnt er sich gegen das Log (Geschwindigkeitsmesser und Meilenzähler) – das hat auf ANEKI noch nie etwas angezeigt, inzwischen ist sein Geber auch für immer durch den Blindstöpsel ersetzt.
Tage mit Frust. Die Bibliothek haben wir gefunden, sie hat auch englische Bücher, vielleicht sogar deutsche, das war nicht ganz klar – allein, solch unzuverlässigen Elementen, die nicht beweisen können, dass sie für immer fest in einem portugiesischen Haus wohnen, können sie unmöglich ausgeliehen werden. Therese war echt sauer, hat mit der Bibliothekarin zu diskutieren versucht, dabei aber nur mitleidiges Lächeln und Kopfschütteln über ihre skurrilen Ansichten, ein Schiff sei auch nur entfernt mit einem Haus vergleichbar und sechs Monate dem Begriff dauerhaft auch nur im entferntesten nahe kommen, erhalten. Sie mache die Regel nicht, sagte sie zum Schluss, sie müsse sie nur befolgen. Also gingen wir wieder in die Buchhandlung – anscheinend die einzige hier – mit dem dürftigen, aber teuren Angebot an englischen Taschenbüchern. Portugal soll immer noch fünf, vielleicht sogar zehn Prozent Analphabeten haben – man merkt‘s, verdammt nochmal!
Dann machte ich mich an die Veloreparatur. Wir haben schon vor einiger Zeit drei Reifen nachgepumpt, der vierte wollte und wollte aber nicht; zuerst ging’s, dann entwich aber die ganze Luft mit einem tiefen Seufzer wieder. Also baute ich das Rad aus. Das wäre bei allen Fahrrädern, mit denen ich in den letzten vierundfünfzig Jahren zu tun hatte, keine große Sache, wir sind aber stolze Besitzer zweier Bromptons, und die sind really very british. Therese erlaubte sich auch die Frage, ob ich meine, das alles wieder zusammenbauen zu können – es ist blöd, aber sowas ärgert mich. Sie holte aber auch die ganzen Velowerkzeuge und Ersatzteile hervor. Es gelang mir, den Schlauch aus dem Reifen zu holen, nur um festzustellen, dass eigentlich nur die Pumpe kaputt ist. Also machte sich mein Täubchen auf den Weg zum Velohändler, während ich den Schlauch wieder eingebaut habe. Sie kam mit einer richtigen Prachtpumpe wieder. Na also! Aufpumpen. Rad einbauen – auf die britische, also kompliziert möglichste Art. Das dauert natürlich ein Weilchen, wenn auch bei weitem nicht so lange, dass der Reifen inzwischen einen merkbaren Anteil seiner prallen Härte verlieren dürfte. Also nochmals von vorne...
Das Seifenwasser zeigte es: ein vom bloßen Auge nicht sichtbares Minilöchlein. Flicken, einmal mehr zusammenbauen, aufpumpen.
Nach dem beide Velos verstaut waren, hatte niemand mehr Lust zum Kochen; wir gingen ins Restaurant. Am nächsten Morgen fragte Therese, ob wir ein kleines Velotourli machen wollten. „Ich habe mich noch nicht getraut, nachzuschauen, ob das Rad nun in Ordnung ist“, antwortete ich. Nach einer Weile – sie war zuerst mit anderen Sachen beschäftigt – ging sie, um die „Daumenprobe“ zu machen. Es täte ihr leid – wie wenn sie etwas dafür könnte –, aber der Reifen sei total schlapp. „Was machen wir jetzt?“, fragte sie. „Über Bord rühren!“ Das wollte sie aber nicht, stattdessen machte sie sich auf den Weg zum Velohändler - schiebenderweise. Ohne sie wäre ich oft wirklich am Arsch.
Es gibt aber auch gute Nachrichten. Vorgestern Nachmittag – noch vor der Bibliothek, also ehe uns das Glück verließ – bestellte ich per Internet die License für Pactor 3, eine schnellere Variante meines Mail-Systemes. Am nächsten morgen erhielt ich sie bereits per E-Mail. Die Anleitung dazu las sich ziemlich kompliziert, aber kaum machte ich das Mail auf, stand schon die Meldung am Bildschirm: New license sent to modem: LICENSE HB9DPL ...... (modem says: „THANK YOU FOR LICENSING THE PTC-FIRMWARE!“) < Professional (Pactor-3) firmware ver: 3.3c, P-3 license OK >. Die Pünktchen stehen für den Code – den verrate ich nicht, hat mich schließlich 149 US Dollar gekostet. Ist die Kurzwellenverbindung ziemlich schwach, geht‘s auch mit der neuen Version nicht oder kaum schneller. Bei halbwegs vernünftigen Bedingungen aber ist der Unterschied alt / neu wie VW Käfer gegen Porsche Carrera. Fotos oder andere fancy Sachen können zwar nach wie vor nicht übermittelt werden, dafür ist dieses System nicht gedacht, ich hoffe aber, nun viel seltener die Meldung zu erhalten, sorry, deine täglich 30 Minuten sind aufgebraucht. Das kann nämlich schon mal ziemlich frustrierend sein: Eine längere Nachricht fängt an einzutrudeln, die Verbindung ist aber schwach, bricht schließlich ab, es gelingt mir, wieder Kontakt aufzunehmen, und dann: sorry... Ich kann dann nämlich nicht einmal den erhaltenen Teil lesen, das System lässt nur vollständige und fehlerfreie Nachrichten zu oder gar nichts. Jene, die von Kurzwellen eine Ahnung haben, werden zugeben, dass das schon eine bemerkenswerte technische Leistung ist. Nebst Profis oder Funkamateuren sind es heutzutage nur noch jene alten Menschen, die in einer Diktatur gelebt und Gefängnis und Folter riskiert haben, um hinter verschlossenen Türen und Fenstern fast in das Radio zu kriechen, um den Kurzwellennachrichten zum Beispiel vom BBC – pa-pa-pa-pamm – zu lauschen. In Ungarn der fünfziger Jahre hat kein vernünftiger Mensch bei Freunden oder Bekannten zu den allen bekannten Sendezeiten dieser Nachrichten geklingelt. Nicht aufzumachen gerade zu dieser Zeit wäre viel zu gefährlich gewesen, also stellte man zuerst blitzschnell auf Radio Budapest um und ging zur Tür. „Mensch! Du bist es! Spinnst du eigentlich, hast du keine Uhr oder was?!“ Nein, reparieren von britischen Fahrrädern wäre damals kein Problem gewesen – im Gegenteil, ich wäre vor Glück und Stolz fast vergangen, wenn ich eines nur hätte streicheln dürfen. So undankbar ist der Mensch.
Und Thomas Junior bemüht sich ernsthaft, für uns eine Karibik-Kreuzfahrt zu organisieren.
Therese war erstaunlich schnell wieder da mit dem Velo – repariert! Dabei gab es gleich zwei Tatsachen zum Staunen: Der Meister konnte sich nicht erklären, wieso die Luft – und zwar nicht ein bisschen, sondern die ganze Luft, restlos – entweichen konnte, der Schlauch, inklusive meine Flickstelle, schien absolut in Ordnung zu sein; er montierte trotzdem den vorsorglich mitgenommenen Ersatzschlauch. Und gekostet hat die Übung ganze zwei Euros. Therese überlegte, ob sie nicht etwas mehr geben soll, es kam ihr aber rechtzeitig in den Sinn, dass sie als „reiche“ Touristin nicht die noch vernünftig gebliebenen Preise verderben soll. Wir machten, fitnesshalber, eine erste kleine Radtour. Ich bin mir dennoch und trotz allem nicht schlüssig, ob ich all das Aufblasbare und Elektronische eher als Fluch oder eher als Segen betrachten soll. Da ich aber die Welt auch diesbezüglich nicht ändern kann, wünsche ich mir mehr Gelassenheit, mit den (verdammten!) Dingern zu leben.
ANEKI nähert sich nun mit Riesenschritten der quasisesshaften Wintertauglichkeit. Die Reinigung des Wassertanks gehört zwar nicht unabdingbar zu den einschlägigen Vorbereitungen, da aber die Fußpumpe ein paar Mal ein-zwei Quadratmillimeter irgend etwas, was Mafalda, die Saubere, als Dreck zu bezeichnen pflegt, herausbeförderte, bestand sie auf diese Operation. Ich gestehe: Ganz überflüssig war’s nicht, hat sich doch am Boden tatsächlich etwas feiner Sand abgelagert. Außerdem murmelte sie, etwas Schwarzes sei noch drin, sie verwütscht (erwischt) es aber nicht. „Wahrscheinlich ist es eine tote Ratte“ sagte ich, „am besten packst du sie am Schwanz.“ Das war’s aber nicht, nur die sterblichen Überreste irgendeines kleinen Insekts. Auf welchem Wege es in den Tank gelangt ist, werden wir nie erfahren, vielleicht durch die Entlüftungsleitung – dazu muss es allerdings schon ein perverses Lebewesen gewesen sein – oder mit dem eingefüllten Wasser, ehe wir es konsequent gefiltert haben.
Das Aufstellen der Kuchenbude gehört hingegen zu den Wintervorbereitungen. An sich wollten wir das erst später machen, nur regnet es hier halt hie und da. Aber hoppla, dazu muss zuerst das Besansegel abgeschlagen werden – na gut, das war auch keine große Sache, nur das Verstauen gab ungeplante Arbeit. Normalerweise würden wir auch schon die Genua abgeschlagen haben, wir sehen aber mit freudiger Erwartung dem Besuch von Thomas Junior entgegen, und er soll nicht auf dem Segelsack schlafen müssen, schließlich befinden wir uns auf einer Privatyacht und nicht auf einer Weltumsegelungsregatta, wo der Glücklichste auf dem Spinnakersack schlafen darf, der Unglücklichste auf der Sturmfock... Bis die letzten Tenax-Knöpfe eingeklinkt und die letzten Gurte gespannt waren, fing es wieder etwas zu regnen an, so saß ich nach getaner Arbeit eine ganze Weile nur in Unterhose im Salon herum, statt in den nassen Klamotten – kalt ist es ja nach wie vor nicht – was meinem Täubchen Gelegenheit gab, mich ungefiltert zu beschnuppern. Sobald erging der Befehl: Ab in die Dusche! Bei diesem Wetter, wo man keinen Hund hinausjagen würde! Aus Solidarität oder Motivation kam sie allerdings auch mit – wovon ich zwar nichts hatte, die entsprechenden Einrichtungen sind ja nach Geschlechtern getrennt. Gemäß Broschüre soll es zwar auch ein family bath geben, zugänglich mit der gleichen Karte, das haben wir allerdings noch nicht entdeckt. Wir werden uns beim nächsten Besuch im Büro danach erkundigen – ich vermute, dass es nur im Prospekt existiert.
Weil es heute keinen Tropfen geregnet hat und auch noch ein leichter Wind wehte, rollte ein Nachbar nach dem anderen seine Genua zum Trocknen aus. Mein Täubchen konnte sich da natürlich auch nicht raushalten. Mit dem Stichwort Stockflecken hat sie mich ausreichend motiviert, also machten wir die blöde Übung – sonst ist das ja reine Routine, bei aufgestellter Kuchenbude und zusätzlich behindert durch den Cockpittisch ist es aber weniger empfehlenswert. Wir reinigten noch den Bilgenpumpenfilter, und dann ging sie in die Stadt – unter Protest, weil ich nicht mitwollte. Ich versprach aber, nicht nur abzutrocknen, bis sie zurückkommt, sondern auch die roten Peperoncini aufzufädeln, mit Segelmachergarn. Die Dinger sind zwar in einigen Gerichten wunderbar, zum Beispiel in meinem fernöstlich inspirierten Gemüse-Reisgericht, ein Einziges ist aber selbst für Leute, die gerne scharf bis sehr scharf essen, völlig ausreichend. Kaufen kann man aber nicht eine, zwei oder drei, nur eine ganze Packung – wovon dann achtzig Prozent kaputtgehen. Das mag die sparsame, umweltbewusste ANEKI-Crew aber nicht, so beschloss Mafalda die Geniale, ANEKI in gewisser Hinsicht in ein ungarisches oder mediterranes Bauernhaus umzuwandeln: Die sind bekanntlich auch weiß, damit sie aber doch nicht zu eintönig wirken, werden sie, unter einem Vordach, mit zum Trocknen aufgehängten roten Paprika dekoriert.
Der nicht vorgesehene Landgang ist wegen einem der unpraktischsten, dennoch notwendigen Ausrüstungsgegenständen von ANEKI nötig geworden: dem Drucker. Wie schon erwähnt, wird er mangels Platz unter unserem Bett aufbewahrt und muss jeweils mühsam und umständlich einsatzbereit gemacht werden. Als es soweit war, zeigte sich, dass nicht nur seine Batterie, sondern auch die Druckpatrone leer war. Ich hatte aber noch eine nie benutzte Farbpatrone – die anzunehmen weigerte er sich aber hartnäckig. Ob HP das Ablaufdatum elektronisch einprogrammiert hat? Für Menschen lesbar stand Oktober 2000 drauf, also vor drei Jahren. Wo sie denn so ein Ding kaufen solle? „Ach, das wirst du sicher rausfinden, frag doch in dem erstbesten Laden, was überhaupt in Frage kommen könnte.“ Das hat sich tatsächlich bestens bewährt, der erste schickte sie zum zweiten, der hatte Dutzende Sorten am Lager, nur gerade unsere nicht, hat sie aber sofort bestellt, morgen früh um zehn soll sie da sein.
Gestern gegen Abend kam unser nächster Nachbar, Brian vorbei und hat sich verabschiedet. Sie werden ganz früh zum Flughafen fahren müssen. Vor einiger Zeit hatte er schon erzählt, er gehe für die Wintermonate nach Hause nach England, um Geld zu verdienen und sagte dabei etwas ganz Bemerkenswertes: Er sei jetzt fünfzig und habe somit als Ingenieur auf dem Arbeitsmarkt einen recht hohen Wert, da er nun über viel Erfahrung verfüge. Hört, hört! Anscheinend ist die helvetische Jugendlichkeitsmanie nicht in allen europäischen Ländern gleichermaßen „in“ – in der Schweiz werden über fünfunddreißigjährige Greise bestenfalls für die Stelle eines Bundesrates oder Generaldirektors (was zwar heute nicht mehr so, sondern irgendwie englisch heißt) tauglich gehalten. In Deutschland vermutlich auch, den deutschen Arbeitsmarkt kenne ich aber – Gott sei dank – noch weniger. Ich mag mich gut erinnern, als Gerüchte aufkamen, mein Kollege Dani suche eine neue Stelle. Darüber haben sich ein paar dieser Jungdynamischen beim Kaffeeautomaten – dem einzigen Ort, wo man noch ein paar Worte zu wechseln für verantwortbar hielt – unterhalten. Ob er denn nicht zu alt für einen Stellenwechsel sei, warf einer ein; die anderen nickten nachdenklich. „Um Gottes Willen, der ist doch erst vierzig“, rief ich, „er muss noch fünfundzwanzig Jahre arbeiten, so lange wie ihr überhaupt erst gelebt habt!“ Das wurde natürlich nicht kommentiert, sie schauten mich nur mit dem gleichen Gesichtsausdruck an, den ich jeweils dann bekomme, wenn es meinem Täubchen gelingt, mich wieder mal in ein archäologisches Museum zu schleppen.
Was macht das schöne Bordleben schwer? Es sind nicht Stürme oder widrige Winde, noch unangenehme oder gar gefährliche Wellen, keine Piraten, Räuber oder auch nur Diebe. Für großen Ärger sorgen meistens unzuverlässige Menschen und für kleinen, aber umso häufigeren – subjektiv gesehen also gerade durch die Häufigkeit noch größeren – Ärger vor allem Kleinbatterien und alles Aufblasbare. Beispiele? Der Akku in unserem Handscheinwerfer ist kaputt; okay, daran bin ich selber schuld. Andere wieder aufladbare Kleinbatterien habe ich aber sehr sorgfältig genau so behandelt, wie es alle Hersteller empfehlen, nämlich ganz leer fahren und dann voll wiederaufladen. Trotzdem taugen eine ganze Anzahl wenig bis gar nichts mehr: im Laptop, im Telefönchen, in den kleinen Handfunkgeräten. Eine rühmliche Ausnahme ist die Akkubohrmaschine Marke Bosch, inzwischen sieben Jahre alt und immer noch – Holz anlangen! – wie neu. Es ist also technisch möglich. Der Laptop läuft aber nicht einmal mehr hoch ohne externen Stromanschluss. Das Telefonino jammert bereits nach einem halben Tag Leerlauf – also nur eingeschaltet, keine Gespräche oder SMS – „Akku laden“. Und so weiter. Elektronik wird halt immer billiger – auch in der Qualität. Was nützt mir ein günstiger Preis, wenn die Dinger nichts taugen? Es ist doch scheißegal, ob es „nur“ die Batterie ist! Funktioniert es oder funktioniert es nicht? Na also! Aber auch auf nicht aufladbare, hundsgewöhnliche Batterien ist kein Verlass. Der Barograph funktioniert normalerweise etwa zwei Jahre mit einem Satz. Plötzlich wollte er nicht mehr recht, der Papiervorschub blieb immer wieder stehen. Erst mal nachschauen: Die Batterien sind erst wenige Monate alt. Also Kontakte reinigen, sprayen, probieren – keine Besserung. Wir kauften also doch neue Batterien. Jetzt läuft‘s. Wie lange wohl?
Das Schlauchboot – um zur zweiten Kategorie zu kommen – ist auch ein Dauerärgernis. Es hat keine Löcher – die könnten durch Pech oder unsorgfältige Behandlung entstehen – sondern seine Kleb- oder Schweißstellen werden undicht. Gestern hat Therese den aufblasbaren Boden an drei Stellen sorgfältig mit den dafür vorgesehenen Mitteln und Methoden geflickt. Heute Morgen war er merklich schlapper. Das Theater mit der Rettungsinsel – auch so eine never ending story – habe ich ja schon erzählt und auch das mit dem Veloschlauch.
Und die Menschen? Ist das normal, wenn jeder zweite Handwerker – und da bin ich noch sehr großzügig –, ob „Einzeltäter“ oder angestellt bei einer angeblich renommierten Firma, für teures Geld Mist baut? Der total revidierte Diesel erweist sich als Schrotthaufen, sündhaft teure Farbschichten blättern nach kurzer Zeit teilweise ab, der durch den grundehrlichen, seriösen deutschen Ingenieur und Weltumsegler revidierte und eingebaute Wellengenarator löst sich in seine Bestandteile auf, mal kühlt ein exorbitant teures Kühlsystem nicht, mal pumpt eine Pumpe nicht... Und wer meint, wenigstens die grundsoliden Schweizer Banken und Versicherungen sind über jeden Zweifel erhaben, befindet sich wohl im letzten Jahrhundert. Oder stelle ich zu hohe – oder nicht mehr zeitgemäße – Ansprüche, wenn ich erwarte, dass das, was Menschen und Firmen behaupten, doch noch mehr Bezug zur Realität als zu arabischen Märchen hat?
Therese fliegt Mitte November in die Schweiz. Sie möchte ihre Geschwister und Freundinnen wiedersehen und sich aber auch um Konti und Versicherungen kümmern, ein bisschen hängt diese plötzlich beschlossene Reise also auch mit Obengesagtem zusammen. Den Flug hat sie telefonisch gebucht, statt Ticket bekam sie ein E-Mail. Wir hoffen, dass die Sparideen dieser Fluggesellschaft – es soll auch keine Bordverpflegung geben, es sei denn, man bezeichnet ein Lutschbonbon als solche – sich nicht auch auf flugtechnischem Gebiet bemerkbar machen. Flugpreis und Taxen sind separat aufgeführt. Es würde mich nicht wundern, wenn in einigen Jahren die Flüge weniger kosten würden als die Taxen. Das Schweizer Bahnbillet haben wir im Internet bestellt. Das hat nicht mehr ganz so reibungslos funktioniert, am nächsten Tag wurde per E-Mail um ein paar weitere Angaben gebeten, mit der Anrede Dear Mister S. Y. ANEKI... Ich hoffe, dass es mir gelungen ist die Schweizerische Bundesbahnen dahingehend aufzuklären, dass die Reisende nicht ANEKI sondern Therese heißt. Die gute Nachricht ist: Die kurze Bahnreise von Basel nach Schaffhausen kostet wider erwarten nicht mehr als der Flug über halb Europa – wenn auch nicht sehr viel weniger. Außerdem bestätigt sich die Relativitätstheorie nicht nur im Bezug auf Raum und Zeit, sondern auch auf Temperaturen. Wir finden, es ist hier nun recht kalt geworden. Unsere Freunde und Verwandten in der Schweiz berichten uns, dass dort auch. Hier ist es morgens so um die fünfzehn Grad herum, nach Mittag knapp fünfundzwanzig. In der Schweiz soll es aber ab 5-600 Meter Höhe Schnee geben – findet sowas nicht bei etwa null Grad statt?! Nach dem heißesten Sommer des Jahrtausends nun der kälteste Herbst?
Der Höhepunkt des Tages war aber ein Anruf von unserem alten Freund Beat. Ihn trifft keine geringe Schuld daran, dass wir nun im Exil auf dem Boot leben. Er war nämlich Skipper an meinem allerersten Segeltörn und das war so schön, dass ich mich danach jahrelang gefragt habe, verdammt noch mal, wieso kann man nicht immer so leben? Endlich weiß ich es: Man kann.