In dem neuen Band 39 können Sie einen lange vermissten und von vielen Seeleuten immer wieder nachgefragten Klassiker der Seemanns-Literatur neu entdecken: Hein Bruns (Jahrgang 1910) fuhr bis Ende der 1960er Jahre zur See. Er kannte die Seefahrt als Kochjunge, Decksjunge, Kohlentrimmer, Motorenwärter, Heizer, Schmierer, Ingenieur-Aspirant, Vierter, Dritter, Zweiter und Erster Ingenieur. Im Band 36 dieser gelben maritimen Buchreihe berichtet Rolf Peter Geurink von seiner Begegnung mit Hein Bruns 1967 an Bord des MS „RUTH DIETER“. Sein abenteuerliches Leben an Land und auf See lieferte den Rohstoff für sein 1966 erschienenes erstes Buch, den Roman „Ein Schmierer namens Valentin“ (Auflage 24 Tausend). Das Buch erschien 1968 auch in den Niederlanden. Im Jahre 1967 wurde „In Bilgen, Bars und Betten“ erstmals verlegt (Auflage bis 1974 14 Tausend). Von Hein Bruns erschien 1968 noch ein nicht maritimes Buch: „Weit unter dem Nullpunkt“. 1979 (10 Jahre nach seinen beiden Erstwerken) brachte er im Selbstverlag heraus: „Der sündige Kurs der Tina-Theresa" - Er ist danach bald gestorben.
Nicht alles, was und wie Hein Bruns schreibt und wie er es oft übertrieben und zugespitzt und in bisweilen auch klassenkämpferischer Weise formuliert, findet meine uneingeschränkte Zustimmung. Nicht wenigen Lesern wird es bei dieser Lektüre, besonders der vielen amourösen Szenen, wie mir ergehen, der ich in kleinbürgerlich-christlicher Sozialisation zu einer Zeit aufgewachsen bin, in der alles Sexuelle tabuisiert und versucht wurde, das animalisch Triebhafte zu sublimieren und zu beherrschen. Schon Sigmund Freud wies uns aber bereits auf die Urkraft der Libido und die Gefahr der Verdrängung hin. Hein Bruns’ Texte beschreiben jedoch in mancherlei Hinsicht die Gegebenheiten der Seefahrt seiner Zeit in den 1950er und 60er Jahren sehr treffend und sollten wieder lesbar sein, auch wenn sich vieles in der Seefahrt inzwischen total verändert hat.In Bezug auf die sehr freizügige Darstellung des Themas Sex bei Hein Bruns wurde ich wieder mal an den bekannten Theologieprofessor und langjährigen Prediger auf der Kanzel des Hamburger Michels, Helmut Thielicke, erinnert, der 1958 eine Seereise nach Japan auf einem Frachtschiff der Hapag unternahm und seine Erlebnisse an Bord in dem Buch „Vom Schiff aus gesehen“ zusammenfasste. Seine hautnahen Begegnungen auf dieser wochenlangen Reise mit Seeleuten brachten ihn zu dem Bekenntnis, dass ihm eine ganz neue, bisher unbekannte Welt erschlossen worden sei und er nun eigentlich sein kurz zuvor veröffentlichtes Ethikwerk umschreiben müsse: „Ich bemühte mich nach Kräften, offen zum Hören zu bleiben und - so schwer es mir fällt - selbst meine stabilsten Meinungen in diesem thematischen Umkreis als mögliche Vorurteile zu unterstellen, die vielleicht einer Korrektur bedürfen. Ich frage mich ernstlich, was an diesen meinen stabilen Meinungen christlich und was bürgerlich ist… Ich merke, wie schwer es ist, sich im Hinblick auf alles Doktrinäre zu entschlacken und einfach hinzuhören - immer nur hören zu können und alles zu einer Anfrage werden zu lassen... Bei meiner Bibellektüre achte ich darauf, wie nachsichtig Jesus Christus mit den Sünden der Sinne ist und wie hart und unerbittlich er den Geiz, den Hochmut und die Lieblosigkeit richtet. Bei seinen Christen ist das meist umgekehrt.“
Direktbezugbeim Herausgeber Jürgen Ruszkowski, Nagelshof 25, D-22559 Hamburg
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Hein Bruns
Leseprobe:
Bei noch sehr bewegter See kam bei Elbe 1 der Lotse an Bord. Hantelte sich die Jakobsleiter hoch, im Trenchcoat, blauer Mütze und Aktentasche, die an einem Lederleibriemen hing. Regen schlug mit nassen Bändern die Unterelbe und schlug auch die Mauern der Schleusen und die Schleusentore und das Lotsenhaus von Brunsbüttel. Aprilregen, nass und nass und kalt! Frierend standen der Clerk vom Makler und Agenten auf der Schleuse. Frierend standen auch zwei Frauen, ältere, aber sie unterhielten sich. Ältere Frauen haben sich mehr zu erzählen, auch wenn sie warten, mehr zu erzählen als junge Mädchen, so die warten. Frierend, mit hochgeschlagenem Kragen ihres Regenmantels, Haare unter einer Spitzhaube verdeckt, stand auch Mira. Der Clerk, die älteren Frauen und Mira warteten auf die MISTRAL. Sie alle zogen das Schiff mit ihren Gesprächen oder Gedanken heran. Und jeder Gedanke oder jedes Gespräch war eine Gemeinschaft für sich, war ein Kreis. Ein Kreis bei dem Clerk, bei den älteren Frauen und bei Mira. Mira sah übernächtigt aus. Sie hatte in der vergangenen Woche im Krankenhaus Nachtwache gehabt und die letzte Nacht im Frauenheim für Seemansfrauen auf der Schleuse verbracht. Aber dort war es auch reichlich unruhig gewesen. Ein paar Seemannsfrauen warteten auch auf das Schiff ihrer Männer und hatten Kinder dabei. Wo sollten sie auch damit hin? Schließlich wollten die Kinder ihren Erzeuger und Ernährer auch einmal sehen und der Ernährer auch die Kinder. Wenn auch nur für die Zeit der Kanaldurchfahrt acht Stunden. Der Vater und Ernährer möchte aber auch mit seiner Frau einmal für ein paar Stunden allein sein, möchte mit ihr sprechen, möchte sie auch nackt sehen. Wenn das so ist, müssen die Kinder nach draußen, an Deck geschickt werden, denn die Kinder brauchen nicht alles zu hören und auch nicht alles zu sehen. Und wenn es nun draußen regnet? Und wenn es nun Nacht ist? Und wenn es nun Winter und kalt ist? Was dann? Müssen die Kinder in den Gängen bleiben und werden dort spielen oder toben oder randalieren und stören dann wieder die anderen Ehepaare und die Freiwächter, die schlafen müssen. So einfach ist das alles gar nicht. Schönes, harmonisches, fast acht Stunden währendes, geregeltes Eheleben der Seeleute, nicht wahr? Ja, wo die Liebe hinfällt! Dann muss der liebe Vater auch noch vier Stunden Wache gehen, auf der Brücke oder in der Maschine und die müssen ja schließlich auch noch von dem achtstündigen, geregelten Familienleben abgezogen werden. Ist der Kanal passiert, was nun? Das kann um jede Tag- oder Nachtstunde sein. Aufenthalt des Schiffes in der Schleuse Kiel-Holtenau, vielleicht eine halbe Stunde, o nein, es kann auch eine Stunde daraus werden, so genau ist das nicht zu sagen. Mutter allein oder mit Kindern muss und müssen wieder von Bord. Natürlich müssen sie von Bord. Und Mutter und Kinder fahren wieder, so sie Glück und nachts noch Fahrgelegenheit haben, Hunderte von Kilometern ins Land, nach Hause. Sie haben den Vater gesehen, ist das nichts? Sie hat ihren Mann gesehen, ist das auch nichts? Sie wollte soviel, und er wollte soviel und es wurde nicht soviel. Und diese wunderschöne, manchmal auch interessante, meistens aber recht kostspielige Reiserei kann die Frau halbjährlich, wenn ‘s hoch kommt, jede drei Monate haben. Es standen noch zwei Frauen auf der Schleuse und warteten, dass die MISTRAL festmacht. Die Frau des Kapitäns und die Frau des II. Ings., Frau Prochnow. Sie standen zusammen, sie kannten sich und waren am Mutmaßen und am Überlegen und Hecheln und st-s-s, wer wohl die junge elegante Dame sein könne und zu wem sie wohl wolle. Neugierig linsten sie nach der rechten Hand, wegen Ring und so. Aber Mira trug Handschuhe. Zustände heute bei der Seefahrt, da erlauben es die Reeder sogar schon, dass die einfachen Seeleute ihre Verlobten, und meistens sind sie gar nicht verlobt, auch einfach an Bord nehmen dürfen. Zustände, Frau Prochnow, sage ich ihnen! Ein Kapitän ist nichts mehr. Ja, Frau Kapitän, das habe ich auch schon festgestellt. Aber was soll man dagegen machen? Mein Mann sagt immer... mein Mann sagt oft... und mein Mann meint...! Das sagt mein Mann auch... und mein Mann meint das auch... mein Mann ist nun schon so lange Kapitän und er sagt auch, dass... ja, das hat mein Mann auch schon festgestellt. Nun sehen Sie sich das doch mal an, Frau Prochnow, wie diese Person sich ziert. Ihr Mann wird nun wohl auch bald Chief, nicht?
Meiler hatte Mira zum Kanal bestellt, um sie zu sehen und um vielleicht in Kiel-Holtenau mit ihr auszusteigen, falls man für ihn eine Ablösung hat. Eintragung im Maschinentagebuch MS MISTRAL: Maschine genug, 11:15 fest in der Schleuse Brunsbüttel. Die Gangway wurde von den Festmachern rübergegeben, und die Besucher konnten an Bord gehen. Der Clerk, der Kanallotse, ein Wasserschutzpolizist und die Frauen. Mira ging zuletzt, sie kannte sich doch gar nicht aus und wusste nicht, wie das jetzt so weitergeht. Nie in ihrem Leben hatte sie ein Schiff betreten. Aufgeregt war sie ein bisschen, aber sie war zu selbstsicher, dass ihr das jemand angemerkt hätte. Meiler kam ihr auf der Gangway entgegen, küsste sie kurz, nahm ihr den kleinen Koffer aus der Hand und jonglierte sie an Bord. Sie gingen durch die schmalen Gänge, überstiegen Sülle, die ihr erstes Opfer forderten: ein zerrissener Perlonstrumpf und ein abgeschabtes Schienbein. Den zweiten Strumpf zerriss der Schlüssel einer Schublade in Meilers Kammer. Da wäre sie also. Ja, da wäre sie. Und schön angenehm warm war es in der Kammer auch. Sie küssten sich lange, der Mann im blauen Overall und die Frau im Regenmantel. Ob der Kuss wohl Fortsetzung finden wird? Das gelbe Wollkleid stand Mira gut und betonte ihre gute Figur. Pustend und lachend setzte sie sich aufs Sofa. „Gott, was für eine Aufregung, so ein Schiff, so eine Kammer, so eine Fahrt und das Warten!“ Meiler war nervös! „Du, wir müssen gleich essen, meine Wache beginnt um 12 Uhr!“ „Wieso, deine Wache beginnt um 12 Uhr? Du hast doch Besuch. Ich bin doch nicht hierher gekommen, um zu sehen, wie du auf Wache gehst, oder?“ Da ist es wieder, das verdammte Problem und die grenzenlose Scheiße bei der christlichen Seefahrt. Um 20 Uhr ist das Schiff durch den Kanal, aber um 16 Uhr hat Meiler erst Wachschluss. Wachschluss? So siehste aus, dann muss er noch zwei Stunden Manöverwache gehen. Maschine ist auf Revier- oder Kanalfahrt doppelt besetzt. Mit Ingenieuren und mit Assistenten. Bums, da hast' es! Meiler erklärte ihr das. Mira war entsetzt und dachte gar nicht so sehr an sich, aber dachte an die Ehefrauen und dachte vielleicht auch an ihre eigene Zukunft. Du, Melchior, das ist aber doch kein Leben, ich bitte Dich. Die Ehefrauen, zumal wenn sie noch Kinder haben, sind doch zu bedauern. "Sag mal, ist das immer so?“ „Immer, so ein Schiff auf Trampfahrt ist und keinen deutschen Hafen anläuft. Die einzige Möglichkeit, dass sich die Familie sieht, ist die Kanalfahrt!“ „Nette Aussichten!“ murmelte Mira. „Aber sag mir mal, die wollen sich doch nicht nur sehen, die wollen doch auch zusammen sprechen und wollen doch wohl auch zusammen ins Bett, oder?“ Sie aßen in der Offiziersmesse. Der Messesteward war besoffen. Der Steuermann Ehrlich auch. Es gab Eintopf. Es gibt stets Eintopf, so Besucher an Bord sind, das hat der Reeder Balduin Bollage in einem seiner Rundschreiben an alle seine Schiffe so angeordnet. Eintopf ist einfach und billiger, kann verlängert werden, mit Wasser natürlich. Eintopf ist praktisch und spart auch Überstunden. — Mira ist für sechs Stunden allein. Sie geht ein bisschen durchs Schiff, es ist ihr alles so fremd und unwirklich, irgendwie unnatürlich. Fast kam in ihr so etwas wie Heimweh nach dem Krankenhaus, nach ihrer Station auf. Sie versuchte zu lesen, gab es wieder auf, das Klingeln und Rasseln des Maschinentelegrafen störte sie. Alles Geräusche, die ihr neu und auch fremd waren. Sie kannte das Schnarren eines Relais, den wohl hastigen Ruf einer Klingel, den Schrei eines Sterbenden, aber diese Geräusche kannte sie nicht, und sie erschreckten sie. Sie waren ihr auch nicht vertraut. An den Zweiten Offizier Linke dachte sie auch ganz kurz, auch an sein einwandfreies Benehmen, an die Korrektheit seines Anzugs, oder besser seiner Uniform. Aber sie mochte keine Männer mit glatten Gesichtern. Da war ihr das Gesicht des Steuermanns Ehrlich und das des Ersten Offiziers, wenn auch verhauen und wie vom Sturmwind durchweht, doch lieber. Mira stand auf und sah aus dem Bullauge und sah auf regennasse, eisnasse Dächer. Vom Sturm geohrfeigte Büsche und Bäume. Und Schiffsleiber, die in Abständen von Minuten vorüberritschten. Winkende Menschen an Bord! Vielleicht auch nur Passagiere. Achtstundenpassagiere. Wer weiß! Mira sah viel, aber sie sah Melchior nicht! Mira spürte viel, aber sie spürte Melchior nicht! Und Melchior Meiler hatte Wache. Und Mira wachte! Mira wachte und sah aus dem Bullauge eine wolkenschwere Decke in den Norden rollen. Dächer, klatschnass, eisnass, regennass! Der Wind röhrte im Luftschacht der Kammer. Am Ufer ein Angler, ein unentwegter. Büsche, Weiden, kleine Dörfer wandern im Fahrradtempo vorbei. Ein Auto, leer, durchsichtig, einsam: ein Bauer besieht seinen Acker. Wieder Schiffsleiber, grau und schwarz und weiß und die die Sicht auf das Aprilland nehmen. Schiffe aus aller Welt, von aller Welt. Schiffe sind selbst Welten, weite Welten. Wieder versuchte sie zu lesen, es gelang ihr nicht. Der Apriltag ließ sein Landschaftsbuch langweilig werden. Sie kam sich vor wie ein geschlechtsloses Wesen und trug das alles in sich und bei sich, was eine Frau haben muss, womit sie wirbt und verführt. Sie trägt in sich das uralte Mussgesetz der Paarung, der Vereinigung mit dem Mann. Der Mann hat Wache! Muss der Mann Wache haben? Er muss wohl, ... ja, er muss wohl, aber sie, muss sie nicht auch? Mit welchen hochtrabenden, hehren Gedanken und Gefühlen über Glück ist sie zu ihm gefahren. Wie hatte sie sich auf die Gespräche, auf die Diskussionen mit ihm gefreut.
Leseprobe:
Sie verließen den Golf von Mexiko und passierten Key-West, fuhren durch die Floridastraße. Der letzte Gruß Floridas galt dem Schiff. MS MISTRAL lag auf Ostkurs. Der Nordatlantik umrauschte den Bug, und Tümmler umspielten den Steven. Die See lag ruhig. Nichts deutete auf Schlechtwetter hin. Doch dann: Wachwechsel. Die Sonne sank. Fahlgelb wurde der Himmel. Dann wurde es ein verwaschenes Grün. Das Barometer fiel in den Keller. Dunst stieg aus dem Meer. Die Nacht kam. Freiwache. Eine lange Dünung wiegt das Schiff. Tanzmusik, schräge, heiße amerikanische Musik quäkt aus den Transistoren und Kammern. Plötzlich tutete das Funkgerät: „Hurrikanwarnung!“ Der abgelöste Rudergänger brachte die Nachricht von der Brücke in die Messen und Decks. Das Funkgerät tutete hastiger. Die Land- und Küstenstationen Floridas gaben Marschrichtung und Geschwindigkeit des Hurrikans bekannt. Ausweichen! Dem Unwetter aus dem Wege gehen. Der Alte wurde zappelig wie eine Jungfrau. Der Erste Offizier ruhig, gelassen, das war nicht sein erster Hurrikan. Kursänderung! Das Barometer fiel noch tiefer. Der Hurrikan ist schneller als das Schiff. Um Mitternacht schnaubt der Wirbelsturm heran. Die See ist plötzlich wie eine aufgewühlte Urlandschaft im Erdbeben. Wie Höllengesinde schwingen sich die ersten Böen kreischend und jaulend in Wanten und Masten. Satan geigt auf den streifgespannten Stagen. Schwere Brecher donnern über das Vorschiff. Höher und schwerer die überkommenden Seen. Wuchtiger, brutaler die Schläge. Bis zum Bootsdeck greifen sie hinauf und schlagen wie Presslufthämmer. Seewasser dringt in die Innengänge. Wohnräume und Kombüse und Pantry sind Tanzdielen aller Hexen. Die Schiffsschraube quirlt im Wasserdampf wie ein Riesenschaumbesen bei jeder Neigung des Vorderstevens. Die Hauptmaschine dreht durch, macht Überumdrehungen und muss von Hand nachreguliert werden. Keine Hand vom Füllungshebel. Daneben laufen alle Hilfsdiesel, stampfen die Pumpen. Alles Scheiße, verfluchte Scheiße. Spanten beben! Es knistert unheimlich im Schiff. Stunde um Stunde reitet der Frachter steile Hänge hinauf und stürzt in schäumende Klüfte. Er schüttelt sich unter den Stößen der mordbereiten Kreuzseen und richtet sich immer wieder auf. Bleich wie das Grauen vor der düsteren Tiefe des Nordatlantik schleicht endlich der Morgen heran. Und da bricht eine schwere See die vordere Ladeluke auf. „Santa Maria!“ stöhnt ein spanischer Decksmann. „Verdammte Scheiße!“ flucht der Zimmermann. „Damit wird es wohl mit uns zu Ende sein!“ knurrt der Alte Fritz. Laute sind im Schiff, in Gängen und Räumen und draußen im Sturm wie ein Chor längst ersoffener Seeleute. Aberglaube! Todesangst! Doch wehre sich dagegen, wer es kann. Wasser stürzt zu Tonnen in die aufgebrochene Luke. Der Schrei eines Sturmvogels klingt wie gellendes Hohngelächter. Tiefer sinkt das Vorschiff. Der Alte ist zappelig und am Durchdrehen, der Erste ist ruhig und am Handeln. „Los, Männer, wir müssen was tun, sonst saufen wir ab!“ Er, Ehrlich, der Bootsmann, der Zimmermann und der Alte Fritz, hinter ihnen die Vollgrade und Maschinenfreiwache. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen Deck und Maschine. Aufgeben? Das Schiff und drei Dutzend Leben aufgeben, weil das Vorluk absäuft? Nicht ohne sich zu wehren. Seid ihr verrückt? Wogenberge wirft der Sturm den Männern entgegen. Arme und Beine in schäumender Gischt. Dann stehen sie wieder. „Los, jung‘ Kerls!“ Zuerst das Schiff. Und dann erst der Schiffsmann, so wie es Brauch ist! Beigedreht bei kleiner Fahrt liegt das Schiff im schäumenden Chaos. Die Männer sind vorn und arbeiten. Nass und holzhart ist im Nu das neue Segeltuch, die Persenning, die über die Luke soll. Der Sturm entreißt es den zerschundenen Fäusten und wirbelt es davon, wieder und wieder. Doppelzöllig, dick und eisenbeschlagen sind die Lukendeckel. Keiner hält sie, wenn der Hurrikan sie packt. Der Tag vergeht! Das Schiff krängt plötzlich. Es stößt so eigenartig. Die Seeleute sehen sich an. Die Alten wissen es sofort: Ruderschaden. Das Schiff gehorcht dem Steuer nicht mehr. „Jetzt saufen wir ab!“ Keiner weiß, wer es gesagt hat. Neben dem Steven wächst im vergehenden Tageslicht ein grüngläserner Berg empor. Seine Flanken schäumen. Immer höher, gewaltiger, wuchtiger reckt er sich auf. Gleich muss er zusammenstürzend das Vorschiff unter sich begraben. Jeder klammert sich an was, an irgend etwas. Möglichst oben. Wird der bereits gekrümmte Ladebaum halten? Auf der Brücke wachen der Alte, Linke und der Rudergänger. Rudergänger noch immer ohne Geschäftsbereich. Der Elektriker sucht schon fieberhaft nach dem Schaden. Einer reißt die Leine! Das Typhon stöhnt einen dreifachen Ruf in die beginnende Nacht: „Weg vom Vorschiff! Schnell! Rettet euch!“ Die Männer weichen. Druckluft presst sich in ihre Ohren. An die eisernen Brückenleitern gekrallt, hören sie es vorne bersten und splittern. Dann entern sie auf. Noch fehlt keiner! Doch wie lange kann sich das Schiff noch halten? Der Spanier betet! Einem Jungen flattert das Kinn! Die Alten sind stumm! Jeder weiß es ja. Warum also darüber sprechen? Der Elektriker, ja, der Elektriker, er gewinnt die erste Runde gegen den Hurrikan, er hat den Fehler an der Ruderanlage gefunden, die Rudermaschine läuft wieder. Das Schiff ist wieder in der Gewalt von Fäusten und Hirnen. Das Funkgerät schweigt. Die Antenne ist längst zerrissen. Kein Hilferuf verlässt das Schiff. Das Barometer steigt! Nein, es schnellt in die Höhe! Sie sind durch! Sie haben ihn abgeritten, den Hurrikan!
„Kinners“, so fing der Alte Fritz stets oder meistens eine Story an, „ich fuhr ja auch einmal als Leichtmatrose. Lange, lange ist das schon her. Soll ich Euch die Geschichte erzählen?! „Erzähle sie, Fritz, erzähle sie!“ „Man soll uns Seeleuten nur nicht nachsagen, wir hätten kein Herz und kein Gemüt. Jaja, es gibt solche Leute, die das meinen. Ich denke da an eine kleine Geschichte, die ich persönlich vor dem Zweiten Weltkrieg erlebt habe. Wie gesagt, ich fuhr noch als Leichtmatrose. Wir lagen in Hamburg. Die halbe Deckscrew bekam an diesem Sonnabend vom Ersten einen freien Tag. Das war ganz schön, nicht, und das hatten wir auch bitter nötig, um unser Inneres und Äußeres wieder ein bisschen aufzufixen! Von großer Fahrt heimgekehrt, standen uns die Kopfhaare bis weit über den Kragen und wuchsen schon wieder zurück. Beim Bart ist das nicht so wild, den lässt man getrost wieder zurückwachsen, durch die Haut und knabbert ihn von innen ab. Also sollte und musste der Friseur unser erster Ankerplatz sein. So gingen wir, vier Matrosen und ich (welche Ehre für mich) gemeinsam in Hamburg an Land. Wetterharte Gesellen, die Matrosen, anders als heute die Beatle-Bubis. In ‚Fähre 7’ bei Hermine Hansen kehrten wir erst einmal ein und knobelten dort aus, wer von uns zuerst zum Putzbüdel gehen sollte. Der Friseur wohnte nebenan im Keller. Der erste segelte ab und kam nach geraumer Zeit, mit allen Düften der Kosmetik im Geleit, wieder heim zu Hermine. Wir anderen hatten die Wartezeit, versteht sich, nicht tatenlos verbracht, i bewahre, nein. Hermines alter Gaskocher sorgte immer für Grogwasser, und jeder scheidende Delinquent musste eine Runde gutmachen und jeder wiederkehrende Frischling ebenfalls. Für die blonde Locke, die Seppl mitbrachte, und die er seiner Resi nach Bayern schicken wollte, musste er eine Extrarunde auf die Back schmeißen. Kinners, was ist das Haarschneiden für ein teurer Spaß geworden, und was hat das lange gedauert. Der Chronometer über der Tonbank zeigte schon auf die Mittagszeit. Hermine gebrauchte jetzt erst mal ihren ollen Gaskocher, um Würstchen heiß zu machen, von denen wir denn nun einige Meter verdrückten. Das letzte Loch im Magen stopften wir mit Weißbrot zu. Mittlerweile saßen nun schon drei gepflegte Seeleute an der Back. Kuddl war im Keller und von mir, dem letzten, rückten diese ‚Schönlinge’ etwas ab, ... nee, der gehört nicht zu uns. Anfangs war es umgekehrt, da gehörte der Erstgeschorene nicht zu uns. Die Zeiten können sich eben schnell ändern. Mit Kuddl dauerte es aber auch verdammt lange. Mir fiel übrigens auf, dass Hermine öfter mit einem Tablett, darauf zwei dampfende Groggläser, aus der Tür huschte. ‚Das ist für die beiden Barkassenschipper da drüben’, sagte sie, als ich sie misstrauisch fragte. Und Kuddl kam wieder, fiel fast ins Schott, und Hermine trug ein wissendes Lächeln. Die Stimme Kuddls war verdammt belegt und ganz schön laut: ‚Kinners, Mackers, Leidensgenossen, meine Fingernägel hat der Putzbüdel auch wieder sauber gekriegt!’ Tatsächlich, Kuddls Nägel waren sauber und exakt beschnitten, wir sahen beschämt auf unsere Schaufeln und Trauerränder, besonders ich, denn gestern hatte ich Drähte gelabsalt. Jetzt war ich dran mit Ausgeben und Haarschneiden, das letzte war das leichtere. Sank stöhnend auf das Luftkissen beim Figaro und schlief schon, ehe das Werk begonnen. Aber wenn nun jemand annehmen sollte, unser freier Tag sei nun zu Ende, so irrt sich der. Nun gingen wir ‚Jäntlemänner’ (ich hielt mich nach Aussage der Herren Matrosen gut) noch ein bisschen weiter. Stiegen die Treppe, die ins Oberland führt, gleich neben ‚Fähre 7’, hoch und standen im brausenden Leben der schönen Bahn, mit Vornamen Reeper. Unsere geschulten Seemannsaugen machten ein Schaufenster aus, in dem mittenmang von Strampelhöschen und Strampelsäcken, von Kissen, Wärmflaschen und Gummiunterlagen, Schnullern, Flaschen und einem ausgestopften Storch, ein weißlackierter Kinderwagen mit viel Freibord stand. ‚Boys, let us go! Wir kaufen einen Kinderwagen, was? Er kostet vierzig Mark, für dreißig kriegen wir ihn auch. Und dann setzen wir Tedje, der ischa man klein geblieben, da rein und machen eine Landpartie. Wie ist das, Boys, wollen Wir?’ Und ob wir wollten. Bedenken gab es nicht. Ich als jüngster durfte sowieso keine haben, geschweige eine Meinung. Wir rein in den Saftladen. Die Verkäuferinnen erstarrten und zeigten diese unnahbaren Gesichter, die immer ein bisschen ernüchtern. Aber der Geschäftsführer oder Inhaber, was weiß ich, war schnottenfreundlich und führte uns erst einmal die teuersten Modelle vor. Seppl wollte absolut, dass sich eine Verkäuferin als Probesäugling in die Molle legen sollte, aber das wollte keine. Nachdem Tedje, unser Kleinster, sachverständig einen astreinen Handstand auf der Verschanzung des Kinderwagens gebaut hatte und somit an der Stabilität nichts mehr auszusetzen war, entschlossen wir uns, der und kein anderer. Nach dem Palaver des Handelns und Feilschens,wobei wir doch noch sieben R-Mark herausholten, einschließlich eines Schnullers und einer Klapper, packten wir unsern Tedje sutje und weich in die Schaukel und brummten ab. Tedjes Beine hingen Steuerbord und Backbord wohl über die Reling, aber das machte der Liebe kein Kind. So ging es hinein ins Frühjahrsvergnügen. Runter vom Bürgersteig, rauf auf die Fahrbahn, wieder rauf auf den Bürgersteig. Wir segelten dem Teufel ein Ohr ab. Und wir waren vergnügt, Junge, Junge. In einem Hutgeschäft kauften wir uns alle noch Strohhüte, damit man die Familie auch erkennen konnte. Der Wagen schwankte manchmal reichlich, ging zu kehr wie ein Klütenewer an der Doggerbank, das Baby gebärdete sich aber auch wild und ausgelassen. Und ging es ihm nicht schnell genug, paddelte es mit den Beinen, und dann kam so richtig Fahrt auf. Nee, so einen Geleitzug sahen die Leute lange nicht. Unter Absingen von Kindereinschlafwiegenliedem hielten wir Kurs auf die ‚Bunte Kuh‘ und machten kurz in der Schleuse fest. Hier bekam Tedje die Flasche, und die Väter bliesen auch in die Hörner. Eine Nutte, schon betagt, wollte Tedje bemuttern, unbedingt. ‚Na’, grunzte Kuddl, ‚das lass man, das machen wir selber, und Milch mag er nicht!’ Und wieder ‘raus. Willem steckte den Kurs ab. Der Verkehrsschutzmann, mit verständnisvollem Grienen, lotste uns über die Straße, Richtung ‚Große Freiheit’. Ich war am Törn zu schieben. O ja, wir gingen regelrecht Wache. Ich wunderte mich, dass das Fahrzeug so schwer lief. Nehme ‘ne kurze Peilung, heiliger Gustav, die Räder eierten, dass es einen Hund jammerte, und die Paddeln des Babys schlurften auf dem Pflaster entlang. Tedje war eingeschlafen, das machte die ‚Milch’ in der ‚Bunten Kuh‘. Aha, darum hatte ich jetzt Schiebetörn, aha, darum.
Steht doch dort am Schaufenster eines Gemüseladens, ich sehe sie noch heute, eine einfache, ärmlich gekleidete, junge Frau, mit verhärmtem Gesicht. Sie trägt ein Einkaufsnetz, durch dessen Maschen Steckrüben zu sehen sind. Sagt diese Frau bedauernd und mehr zu sich: O Gott, der schöne Kinderwagen, wie schade, wenn ich den für meinen Jungen hätte, ach Gott!‘ Kuddl, der gerade Ausguckstörn hatte, hört das, lässt beide Maschinen stoppen, schnappt sich Tedje und setzt ihn mit Schnuller, Klapper und Flasche ganz sutje auf die Reeperbahn. Fummeliert mit seinen gewaltigen Pranken die Eierräder wieder zu Kreisen. Mensch, das knackte nur so. Ließ die Maschine wieder langsam voraus gehen. ging selbst ans Ruder und elegant an die arme Frau ‘ran uns sagte verhalten und bedächtig: ‚Da, nimm hin den Wagen, mein Deern, und lass deinen Jungen, wenn er groß ist, Seemann werden, dann wird er ein vernünftiger Kerl!’ —
Wir haben nichts mehr gesagt, denn der scharfe Dunst, von der Bratwurstbude kommend, biss uns verdeubelt in die Augen, dass sie uns tränten.“